D:Demo #65, die „Abgehobenen“

Abgehobene Sprache? Vor Jahren hatte ich einen kuriosen Moment. Der damalige Kulturreferent Gleisdorfs stellte mir per Email die rhetorische Frage, ob es denn nötig sei, daß ich mich einer so „abgehobenen“ Sprache bediene und viele Begriffe verwenden würde, die nicht allgemein geläufig seien.

Ich fragte zurück, ob ihm bewußt sei, daß ich Schriftsteller bin, also durch meine Berufspraxis und zusätzlich durch Jahrzehnte der ständigen Lektüre wahrscheinlich einen etwas größeren Wortschatz habe, als viele Menschen in meiner Umgebung.

Dieser Wortschatz, den ich naturgemäß auch verwende, ist gewissermaßen mein Werkzeugkasten, welchen ich nutze, um meine Geschichten zu erzählen. Zweck des Geschichtenerzählens sind die Inhalte, nicht die Werkzeuge. (Muß ich mich blöd anhauen lassen, weil jemand mit einem Minderwertigkeitsgefühl nicht zurechtkommt?)

Nun kann man darüber streiten, wie angemessen es ist, eine literarischen Stil zu pflegen, der an ein belesenes Publikum gerichtet wird, oder… es gibt unzählige andere Zwecke des Sprachgebrauchs. Wer will, kann den Boulevard bedienen, ich nicht.

Ich hab kürzlich in meiner Gründonnerstags-Notiz an ein Gespräch mit dem bosnischen Autor Dzevad Karahasan erinnert, der gesagt hatte: „Meine Aufgabe liegt darin, daß ich Dich in Deiner absoluten Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, irgendwie berühre und anspreche. Verstehen wir uns? Ich hab keine Leserschaft. Ich hab Gesprächspartner.“ (Quelle)

Spätestens seit Corona erleben ich ein neues Revival der Intellektuellenfeindlichkeit, wie sie uns aus der Nazi-Ära hinterlassen wurde. Dieses Herabwürdigen von belesenen Leuten, die sich ausdrücken können. Dieses Beschimpfen von „Intelligenzlern“. Dieser aufgeplusterte Ministrantendienst am Boulevard.

Elitär, abgehoben, arrogant, die ganze Litanei, mit der man abwehrt, daß jemand sich Kenntnisse und Kompetenzen erworben hat, die man an sich selbst schwer bis gar nicht findet. Diese Eifersucht und Angriffslust gegenüber einem anderen kulturellen Segment. Wozu das gut ist? Zum Beispiel, um den Modus „Protektion geht vor Kompetenz“ ausbauen zu können. (Freunderlwirtschaft & Co. lassen grüßen!)

Der Witz an dieser Sache: Was Lebensstil und Sozialprestige angeht, orientieren sich solche Leute oft an einer reicher aufgestellten Schicht, aber im geistigen Leben ist der reichere Schatz offenbar suspekt bis verhaßt. Also rauf mit Besitz und Image, aber runter mit dem Denk- und Reflexionsvermögen? Lustig!

Und was ist der Fall? Laut Berliner Morgenpost sind wir etwa so ausgestattet: „Erwachsene Menschen haben im Schnitt einen aktiven Wortschatz von etwa 12.000 bis 16.000 Wörtern, erklärt Sprachberaterin Franziska Münzberg vom Dudenverlag in Mannheim. Passiv beherrschen sie demnach rund 50.000 Vokabeln.“ (Quelle)

Beim Übersetzungsbüro Connect Translations Austria in Wien erfahre ich: „Doch wie groß ist nun der Wortschatz eines Erwachsenen? – Der aktive, also selbst produzierbare, Wortschatz einer erwachsenen Person liegt im Durchschnitt ungefähr zwischen 12.000 und 16.000 Wörtern, wobei jedoch der passive Wortschatz im Durchschnitt bis zu 100.000 Wörter umfassen kann. Je nach Sozialisierung, Ausbildung oder Beruf variiert das Vokabular eines Sprechers.“ (Quelle)

Reinhard Güll notierte für das Statistisches Landesamt Baden-Württemberg in „Zur Statistik des deutschen Wortschatzes“ folgende Zahlen: „Nach führenden Sprachwissenschaftlern der deutschen Sprache umfasst der Wortschatz der deutschen Standardsprache etwa 75 000 Wörter. Je nach Quelle und Zählweise wird die derzeitige Gesamtgröße des deutschen Wortschatzes auf ca. 350 000 bis 500 000 Wörter geschätzt.“ (Quelle)

Das Projekt „Deutsch in Österreich” bietet unter „Frequent asked questions eine ganze Reihe interessanter Denkanstöße. unter anderem die Frage: „Was heißt plurizentrische Sprache?“ Die Antwort lautet: „Als plurizentrische Sprache wird in der Sprachwissenschaft eine Sprache bezeichnet, die in mehreren Standardvarietäten existiert, welche ihrerseits eigenständige sprachliche Besonderheiten aufweisen und eigenen Normierungen unterliegen. Sind diese Normierungen in Nachschlagewerken festgehalten und staatlich autorisiert, spricht man von einem nationalen Vollzentrum einer plurizentrischen Sprache.“ (Quelle)

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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