Als Westeuropäer bin ich von Haus aus der Nutznießer eines kolonialen Systems, das über Jahrhunderte währte. Es bekam einst mit der Entwicklung des Schiffstyps der Karavellen eine atemberaubende Wirkmächtigkeit und ist bis heute in seiner Essenz der Teil globaler Systeme des Zugriffs auf Ressourcen; und zwar die Ressourcen anderer, denen bloß ein Bruchteil des Fruchtgenusses zukommt.
Im nach wie vor nicht behobenen Nord-Südgefälle verfügbarer Vorteile ist immer die passende Zeit, um über Formen des Plünderns und Beraubens zu reden, der Ausbeutung und Aneignung. Das hat bei uns schon eine Weile diesen speziellen kulturpolitischen Fokus, wie er sich unter anderem im Schlagwort Cancel Culture äußert.
Wir sind hier die Kinder jenes Europas, in dem irgendwann geleugnet und bemäntelt wurde, daß uns der kontinuierliche und intensive Austausch mit anderen Kulturen enorme Vorteile gebracht hat. Spätestens ab der Renaissance ist der sagenhafte Aufstieg Europas durch solche Effekte gut beschreibbar, auch wenn wir diese Rolle mehr verloren, denn aufgegeben haben.
Das reicht vom indischen Konzept der Null sowie den arabischen Ziffern, mit denen wir endlich sehr gut rechnen konnten, über mathematische Grundlagen der doppelten Buchhaltung, bis zur Theorie des Blickes, aus welcher unser westliches Konzept der Zentralperspektive entstand. (Es lassen sich noch viele weitere Beispiele finden.)
Antwortvielfalt und Wechselwirkungen
Der permanente Austausch und die Praxis des Kontrastes sind unverzichtbare Grundlagen gedeihender Kulturen. Das findet seine Entsprechungen in der Biologie, etwa als Gegenteil der zerstörerischen Inzucht. Das hat soziale und kulturelle Beispiele, die man freilich nicht miteinander verwechseln sollte. Das ist eigentlich auch politisch vorteilhaft; als Gegenposition zur Tyrannei.
Für mich ist es auf dem Feld der Kunst ganz selbstverständlich und steht außer Streit: ich muß mich mit allem befassen können und jederzeit in jede Form, in jedes Genre hineingehen dürfen, wenn mir danach ist, wenn ich mir daraus einen Erkenntnisgewinn verspreche.
Damit meine ich, daß mir multidisziplinäre Situationen nicht reichen, das Interdisziplinäre muß zugänglich bleiben. Eine multidisziplinär angelegte Kultur wäre aus meiner Sicht eine Nummernrevue, die mehr oder weniger attraktiv angeordnet, inszeniert sein kann. Erst wenn es mir frei steht, in andere Disziplinen und Genres hineinzugehen, vor allem in jene, für dich ich noch nicht sonderlich qualifiziert bin, wachsen meine Möglichkeiten.
Polemisch verkürzt behaupte ich: So funktioniert Kultur. Das Ab- und Ausgrenzen muß ich dabei ablehnen. Es reicht völlig, wenn auf der Metaebene sortiert, markiert und zugeschrieben wird, wenn sich da Fachkräfte bemühen, durch Abgrenzungen den Überblick zu erleichtern. In der Kunstpraxis selbst hat das aber nichts verloren, außer man findet dazu gute Gründe. Dann kann es auf ein einzelnes Werk angewandt werden, nicht auf das Ganze.