D:Demo #9, Definitionsmacht

Ich ringe um Kommunikationssituationen, die einen im aktuellen Gezänk und bei all den medial verstärkten Schlagabtäuschen weiterbringen könnten. Derweil scheppert es nach wie vor regelmäßig im Zentrum von Gleisdorf, lassen es Erregte und Ömpörte wummern und schrillen, rufen sie der Welt zu, was sie alles wollen und nicht wollen, als hätte ihnen irgendwer ein Wunschkonzert versprochen.

Und nun? Wo und wie kommen wir ins produktive Handeln, in die Arbeit an beschreibbaren Defiziten und Mißständen? Es ist ja amüsant, wie mich diese und jene treuherzigen Seelen seit Wochen mit Informationen bewerfen, weil ich ihren Ansichten entgegenstehe. Das erinnert mich an die frühen 1990er Jahre. Gottfried Küssel und seine Neonazi ließen mir regelmäßig per Post aus Spanien Propagandaschriften zukommen.

Das ist ein Äquivalent zu „Ich schlag Dich, bis Du lachst!“ Hier also: „Ich scheiß Dich mit Infos zu, bis Du es endlich kapierst!“ So geht lernen? Das ist mir ganz neu. (Der Gott des Gemetzels hat eben eine bunte, sehr vielfältige Fangemeinde.)

Kann ich jemanden mit Argumenten gegen seine oder ihre Ansichten erreichen? Meine Erfahrung besagt: nein! Geht nicht. Kann ich „Wahrheit“ produzieren, indem ich Widersprüche eliminiere? Ich kenne dafür keinen Beleg. Läßt sich jemand belehren, wenn ich die Person vor Publikum gezwungen hab, ihr Gesicht zu verlieren? Undenkbar! (Aber so schafft man sich garantiert neue Feinde.)

Ach, Sie wußten das schon? Weshalb kommt es dann neuerdings nicht oder kaum zur Wirkung? Seit mich die Gleisdorfer Unruhen angeregt haben, derlei Kräftespiele ein wenig zu dokumentieren und dabei tiefer in die Debatten reinzugehen, erlebe ich hauptsächlich, daß sich das Gezänk nicht beruhigen will.

Der bewährte Irrweg
Der Klassiker geht folgendermaßen. A: „Du verstehst mich nicht!“ B: „Ich vorstehe Dich schon, aber ich stimme Dir nicht zu.“ A: „Nein, Du verstehst mich nicht!“ Die Botschaft ist klar: „Entweder Du stimmst mir zu oder Du bist ein Schuft.“ „Entweder Du schließt Dich mir an oder Du bist mein Feind.“

Ach so? Wußten Sie auch schon? Weshalb geht es dann da draußen derart zu? Warum die niederen Reizschwellen, die markante Angriffslust, die Flut unüberprüfter Annahmen und Erwartungen? Ich höre: „Ja, Du mußt verstehen, die Nerven liegen vielfach blank, die Leute sind erschöpft, frustriert, fertiggefahren…“

Nein, ich muß überhaupt nicht verstehen, daß Legionen erwachsener Leute, die unter Druck stehen, wie ich ja auch, wie wir alle, wie nun also ganze Rudel Erregter und Ömpörter bei unserer aktuellen Wildwasserfahrt den Kahn so zum Schaukeln bringen, daß er vollzuschlagen beginnt, daß er zu kentern droht. Das will ich nicht verstehen. Wer soll denn nun für einen neuen Gewinn an Stabilität sorgen?

Wird es mir besser gehen, wenn Du endlich Dein Verhalten änderst? Hauptsache, ich setze meine Position durch? Das überzeugt mich nicht. Dann wären wir erneut bei Michel Foucault für die billigen Plätze. Bin ich mächtig genug, die Definitionsmacht zu kapern, richte ich Dir aus: „Falls Du nicht einsichtig wirst, bist Du eben Vernunftflüchtling oder Delinquent, bist Du eben blöd oder Du willst nicht. Aber ich werde es Dir schon noch beibringen!“

Ich merke, daß mein Geduldsfaden langsam häßliche Geräusche macht. Wer gerne Macht ausüben möchte, soll es doch offen sagen, anstatt meine Intelligenz mit Euphemismen zu beleidigen.

Macht ausüben, das heißt, ich hab einen bevorzugten Zugriff auf Ressourcen und menschliche Verhaltensweisen, ich kann Dich zu Verhaltensänderungen bewegen, auch wenn Dir die Richtung mißfällt. (Der Staat hat Mittel, das im Gemeinwesen anzuwenden. Muß ich es deshalb privat auch beanspruchen?)

Was nun anfangen mit all den Brecht- und Kafka-Zitaten, mit gefälschten Goethe-Sätzen und echten Coelho-Sätzen. Wozu die Flut von Hinweisen auf Fakten und Träume anderer Leute. Wie verfahren mit all den Memes, die offensichtlich bloß beleidigen wollen, mit schlechter Grafik und mit Kitschbildern?

Was ich über Jahrzehnte gelesen und vielleicht verstanden hab, sollte sich nicht als Readers Digest auf zwei Beinen ereignen, als Umzug marodierender Sprücheklopfer, sondern in unserem praktischen Umgang miteinander. Dazu brauche ich keine Trommeln und Pfeifen und Lautsprecherwagen. Aber vielleicht muß man ja manchmal sehr leise sein, um gehört zu werden…

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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