Was es wiegt, das hat’s XXXVIII: Boxenstopp

(Beiträge und Fragen zu einer nächsten Kulturpolitik)

Ja, ich weiß, eine Metapher aus dem Motorsport: Boxenstopp. Aber der Begriff ist längst in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Kurzer Stopp, um zu überprüfen, wo einem unterwegs allenfalls ein Blech weggeflogen ist, ob Schrauben locker sind, was der Tank noch hergibt.

Oder aber: raus auf den Pannenstreifen. Und ein Fähnchen in den Boden gerammt, um diese Stelle zu markieren. Hier! Ab hier ist ein geänderter Verlauf der Dinge evident. Es hat sich viel verändert. Wer mich näher kennt, weiß um meine Jahrzehnte lange Befassung mit unserer Technologie- und Mobilitätsgeschichte. Die Steiermark, definitiv ein Sonderfall mit speziellen Charakteristika. Siehe dazu aktuell meinen Zweier-Slot im Gleisdorfer „Zeit.Raum“ zum Thema „Die Ehre des Handwerks“!

Das betrifft die Volkskultur in der technischen Welt, während einem anderen Volkskultur-Sektor mein Projekt „Wegmarken“ gewidmet ist. Es geht um ein kulturelles Zeichensystem aus vorindustrieller Zeit. Also paßt meine Metaphernwirtschaft auch zu diesem Bereich. Siehe dazu die derzeit jüngste Notiz: „Projektverdichtung“ (Historiker an Bord)!

Zehn Jahre im Umbruch
Zu all dem gehört, daß mein auf 20 Jahre angelegtes Kulturprojekt in der Provinz („The Long Distance Howl“) gerade endet und ich jüngst meinen nächsten Arbeitsabschnitt konzipiert hab: „Prisma“.

Das wurde Ende September hier bei Kunst Ost skizziert: „Umbruch“, eine Glosse in der Reihe „Was es wiegt, das hat’s“. Eine Debatte, die erklärtermaßen „Beiträge und Fragen zu einer nächsten Kulturpolitik“ liefert. Meine Glosse Nummer 36 erschien in dieser Reihe am 5. Oktober 2021: „Redlichkeit“. (Zu dem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, wo genau ich angekommen war.)

Im größeren Bild sieht man: auf verblüffende Art läßt sich derzeit ein markanter Prozeß darstellen, indem man ihn an drei Jahreszahlen festmacht, die ein symmetrisches Bild ergeben. (Genau das ist in historischen Betrachtungen meist unmöglich, wenn man eine Ära beschreiben möchte. Sie mit genauen Jahreszahlen zu markieren.)

Im Jahr 2010 hatten wir einen massiven Impact aus den Wellenbewegungen der Weltwirtschaftskrise, die 2008/2009 in den USA ausgelöst wurde. Man kann im Rückblick gut sehen, welche Reaktionen in der Steiermark etwa Politik und Verwaltung gezeigt haben. Das verlief dann in massiv wirksamen Schritten quer durchs Jahrzehnt. Vom Doppelbudget bis zu den Gemeindezusammenlegungen.

Der Krusche, Seketär

Wir konnten im Kulturbereich wenigstens zwischen 2010 und 2015 noch viel davon ignorieren, weil das ein wohlhabendes Land ist. Da lief allerweil was weiter, auch wenn man nicht auf die Umbrüche reagierte. Zu den Einflüssen gehören unter anderem Big Data, die angekommene Vierte Industrielle Revolution, Belastungen und Krisen durch große Flüchtlingsbewegungen, Klimaprobleme, die Erosionen altvertrauter Parteiensysteme etc.

Ab 2015 wurde die zunehmende Ressourcenknappheit unübersehbar, hart spürbar. Sie löste allerhand Reaktionen aus, die teils Verdrängungswettbewerbe befeuerten und auch Beispiele von unethischem Verhalten in unseren Reihen hervorbrachten. Also 2010 bis 2015: eine fast verschenkte Adaptionsphase. Ab 2015: die Kälte nimmt in unseren Milieu zu. Mit 2020 steigt der Druck für viele Kunst- und Kulturschaffende so massiv, man müßte schon ein Agent der Blödheit sein, um nicht zu sehen, in was wir geraten sind.

Katharsis?
Ich vermisse in meinem Umfeld seit wenigstens 20 Jahren einen relevanten kulturpolitischen Diskurs. Selbst die Corona-Pandemie und all ihre Konsequenzen stellte zwar die Kontraste auf scharf, so daß vieles eigentlich besser gesehen werden kann, aber ich finde immer noch keine anregenden kulturpolitischen Reaktionen auf dieses aktuelle Kräftespiel der letzten zehn Jahre.

Vielleicht ist das ein ganz naheliegender Ausdruck von Krisen und Verunsicherungen, daß dabei das soziale Klima kälter wird und wir plötzlich Brüche erleben, dir kürzlich gar nicht vorstellbar gewesen werden. Krisen sollen zur Katharsis führen, nicht in Katastrophen. Nun also: das frische Fähnchen am Wegesrand markiert eine Position, die im Rückblick früher oder später gar nicht mehr sichtbar sein wird.

Zur Wissens- und Kulturarbeit gehört (wie in der Politik und in anderen Lebensbereichen) eine interessante Aufgabe. Wie stelle ich mich auf und wohin gehe ich los, um mich Dingen zu widmen, die derzeit noch nicht gedacht werden können? Nein, das ist keine bloß philosophische Fragestellung, sondern das verlangt auch nach praktischen Schritten.

Solche Dinge erörtere ich teilweise längst nach Mitternacht mit Musiker Oliver Mally. Wir sind die Origami Ninjas. Wir haben uns irgendwann für ein Leben in der Kunst entschieden. Und immer wieder flüstern wir uns dieses Zitat von Toni Morrison zu: „This is precisely the time when artists go to work — not when everything is fine, but in times of dread. That’s our job!”

— [The Long Distance Howl] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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