Ich hab bezüglich meiner Archive ein Faible für runde Zahlen. Vielleicht, weil sich die als Markierungen eignen, wenn die Strecke lang geworden ist. Mir schien es ganz praktisch, daß sich spezielle Ereignis der letzten zehn Jahre sehr treffend mit 2010, 2015 und 2020 markieren lassen.
Im Jahr 2010 haben die Folgen jener Weltwirtschaftskrise bei uns voll eingeschlagen, die in den USA ihren Ausgang hatte und mit dem Crash der Lehman Brothers (2008) verdeutlicht wird. Die Konsequenzen waren weitreichend. Zum Beispiel die steirische Verwaltungsreform, das Doppelbudget, letztlich auch umfassende Gemeindezusammenlegungen.
Dabei kam es im Kulturbetrieb spätestens ab 2015 zu einem verschwiegenen Verdrängungswettkampf. Das Rat Race um übrige Ressourcen hatte begonnen. Dabei wurden in der mir vertrauten Szene zunehmend selbstgewählte Regen gebeugt, auch gebrochen.
Eine Besonderheit ist ab 2015 unübersehbar. Politik und Verwaltung begannen stellenweise mit dem Kapern von Kulturbudgets, um diese Gelder in andere Agenda zu investieren. Eine taugliche Strategie, die aufkommenden Ressourcenknappheit zu lindern; vor allem, weil es zu der Zeit längst keine relevanten kulturpolitischen Diskurse mehr gab.
Die „vertuschte Krise“ unseres Kulturbetriebs bekam 2020 einen erhellenden Schlag. Durch die Corona-Pandemie wurde die Situation derart verschärft, daß man die zwischen 2010, 2015 und 2020 gewachsenen Schwachstellen eigentlich nicht mehr übersehen kann. Das zeigt sich auch in sehr kuriosen Momenten.
Die private Facebook-Gruppe „Schweigemarsch der Künstlerinnen 2020“ (3.042 Mitglieder) ist dafür so anschaulich wie exemplarisch. Dort konnte eben zur Jahreswende ein Kurt Gunthar Schneitler über mehrere Tage unwidersprochen seine Plaudervideos raufladen, in denen man zum Beispiel Altherrenwitze (Schenkelklopfer) rund um Blondinen und andere weibliche Phänomene hört.
Auch andere Formationen, die sich als kulturelles Protest-Forum eingerichtet haben, wurden recht bald Umschlagplätze für Eigenwerbung. Vergleichbare Effekte zeigt zum Beispiel die heimische Facebook-Gruppe „Ö3 is not from Austria!!!“ (3.180 Mitglieder), in der Eigenwerbung statt Diskurs regiert und die Frage nach Qualität eher nicht vorkommt.
Es regiert „Ömpörung“. Ich vermisse, was ich auf dem Kunstfeld für unverzichtbar halte: das Ringen um Qualität und Vollendung. Gut, Krise ist nichts Schlimmes, sondern ein Prozeß des Wandels. Wir haben dann zu klären, ob die Krise eher Richtung Katharsis oder Katastrophe führt.
Im Jahr 2020 war mein Fazit: Unsere derzeitige Kulturpolitik hat sich erschöpft, reproduziert sich bloß noch selbst. Unter Kulturpolitik verstehe ich keinesfalls bloß, was uns Funktionstragende des Staates vorsetzen, sondern vor allem auch, was wir – die primären Kräfte – im Wechselspiel mit Politik und Verwaltung konstituieren.
Die zunehmenden Agonie der Kulturpolitik kommt unter anderem daher, weil sich eine neue Bourgeoisie etablieren konnte, die dadurch auffällt, daß sie in weiten Bereichen von einem Bildungsbürgertum besetzt ist, das die Bildung aufgegeben hat.
Ich stoße mich an Äußerungen, die zeigen, daß sie „gefühlter Natur“ sind, sich aber auf keine Kenntnisse von Kulturgeschichte und schon gelaufenen Debatten stützen, also nur noch die eigene Person als Referenzpunkt kennen. Der populäre Wappenspruch: „Was wird aus mir?“
Das wird natürlich keine Dauer haben und früher oder später von anderen Verhältnissen abgelöst werden. Bleibt die Frage, ob wir in der Lage sind, diese Prozesse zu gestalten, oder sie bloß erleben. Plüschig gesagt: werden wir die Lawine reiten oder wird sie uns wegreißen?
Diesen Themenbogen 2010, 2015 und 2020 habe ich in einigen Glossen unter dem Titel „Mein Kontinent“ präzisiert. Die Glossen und Notizen zu den Themen:
+) Die neue Bourgeoisie
+) Für eine nächste Kulturpolitik