„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Diese Aussage wird dem Juristen Fritz Bauer zugeschrieben, der einst als Generalstaatsanwalt in den Frankfurter Auschwitzprozessen exponiert war.
Seine hier formulierte Auflassung ist nicht nur in politischen und zeitgeschichtlichen Kategorien anregend, die hat auch im Kulturbereich einige Brisanz. Damit ist allerdings keinerlei „Traditionsschützerei“ gemeint, auch keine klassizistische Pose. Es läßt darüber nachdenken, wie Denkweisen und Handlungskonzepte über Generationen hinweg wirken, gelegentlich verblassen, auch ruhen, und plötzlich wieder sehr virulent werden.
Dabei kann ich mit populären Zuschreibungen wie „Die Ewiggestrigen“ etc. nichts anfangen. Wir sind sowieso nicht ewig Avantgarde, sondern weit eher ewig Renaissance. Die Reflexion des Gewesenen setzt die Kenntnis von Gewesenem voraus. Dabei bewegen wir uns lieber auf vertrauten Terrains. Die Ausreißer mit ihrem Hang zu ungewohnten Pfaden werden bestenfalls retrospektiv geschätzt, wenn sie nicht untergegangen, gescheitert sind.
Aber die lauteste Zukunftsmusik, dieses Lärmen, wenn jemand von sich selbst ergriffen ist, vernehme ich am ehesten in gemütlichen Stuben, wo sich ein honoriges Völkchen gegen jedes Unwetter gewappnet hat, mindestens dadurch, daß man bei frostigem Klima einfach nicht vor die Tür geht.
Doch ich möchte lieber über Kultur- und Wissensarbeit reden. Wissenserwerb ist ein sehr anspruchsvoller und komplexer Prozeß. Wissenserwerb hat im Kern einige Verwandtschaft mit der Kunst. Die zweckfreie Grundlagenarbeit bleibt bedeutender als jede angewandte Form.
Das meint auch: Wissenserwerb um zu… ist ein wenig wie Kunst um zu… So erledigt man gelegentlich Aufgaben. Damit ist die Sache nicht annähernd ausgelotet. Jenseits davon finden sich weitreichendere Interessenslagen. Des Menschen Evolution ist ja keine Kette der ordentlichen Erledigungen, sondern ein stets neues Erkunden grundsätzlicher Möglichkeiten.
Die laufende Kulturarbeit ist ebenso ein stets neues Erkunden des Terrains, und dabei, wie mir heute scheint, in beide Richtungen des Zeitpfeils ausgerichtet. Einen wesentlichen Denkanstoß dazu hab ich von Kulturhistoriker Aby Warburg erhalten, dessen „Pathosformel“ von der Annahme ausgeht, daß wir Menschen in Gesten und Mimik ein Mitteilungsrepertoire haben, das über zeitliche und ethnische Grenzen hinweg verläßlich und aufschlußteich sei.
Damit bieten uns erhaltene Kunstschätz eine imposant Quelle an Hinweisen, was in der Conditio humana einen größeren Zeitraum durchmessen kann als bloß drei, vier Menschengenerationen. Auf Warburg bin ich durch Aleida und Jan Assmann gekommen, deren Arbeit zum Thema Erinnerungsräume und kulturelles Gedächtnis ein Zeitfenster aufmacht, in dem man die eigene Person und Lebensspanne ausreichend relativiert erfährt, so daß man etwas weniger anfällig werden könnte, seine Möglichkeiten zu überschätzen.
Erinnerungsräume und Gedächtnisorte sind mir wichtige Kategorien geworden, um besser zu begreifen, in welchen Bahnen ich denke und handle. Das verträgt sich gut mit meiner bevorzugten Kunsttheorie, die Boris Groys verfaßt hat und die sehr dynamisch bleibt: „Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“. Demnach verschieben wir materielle wie immaterielle Güter zwischen kulturellen Archiven und dem profanen Raum; und zwar niemals endgültig. Was von einer Generation valorisiert wurde, kann von einer anderen wieder trivialisiert werden und umgekehrt.
Das sind etliche Aspekte, die mich annehmen lassen, es gibt einen Bereich der Betrachtung unserer Angelegenheiten, da besteht kein essentieller Unterschied zwischen dem Blick in die Vergangenheit und dem in die Zukunft. Kultur- und Wissensarbeit als ein Beitrag zum Verstehen menschlicher Gemeinschaft, in einem Verständnis, das über die eigene Zeit hinausreicht…
— [Dorf 4.0: Stadt-Land] —