Episode XXXVII: Realität und Transzendenz

Wir befinden uns in einem laufenden Dialog, um in Texten und Bildern die taugliche Fassung einer komplexen Erzählung zu formulieren.

Was Mayr sieht und was er liefert ist nicht das Selbe.

Das ereignet sich auf verschiedenen Erzählebenen parallel, was bedeutet, die Arbeit an den geplanten 50 Tableaus ist nur ein Bereich jenes Prozesses. Was sich gesamt ereignen soll, schließt Beiträge anderer Menschen ein, betrifft verschiedene mediale Formen.

Im Kern bleibt stets: Wir bearbeiten ein Thema, eine Aufgabe, mit künstlerischen Mitteln. Das hat jeweils seine Verläufe. Manche Menschen meinen zum Beispiel, eine Fotografie würde erst einmal „Realität“ abbilden, um dieses Abbild für weitere Arbeiten zur Verfügung zu stellen.

Freilich gibt es Natur unabhängig von unserer Beobachtung.

Ich denke das nicht; schon gar nicht, seit ich Richard Mayr bei seiner Arbeit gelegentlich zusehe. Was immer auch in dem Moment geschieht, wenn er den Auslöser einer Kamera drückt, hat davor schon ein komplexes Ensemble von Entscheidungen verlangt.

Es ist den meisten Leuten aus dem Reich der Knipsereien überhaupt nicht klar, was an Linsen. Filtern und Einstellungen zueinander in Beziehung gesetzt wird, um eine Situation zu kontrollieren, um zu bestimmen, was den Bildsensor an Informationen erreicht, um einen ersten Datenbestand per Bilddatei abzuspeichern.

Die meisten von uns, so auch ich, fotografieren noch nach dem Angebot von George Eastman, der Ende des 19. Jahrhunderts einen damals radikal neuen Kameratyp anbot. Was dann 1888 zur Firma Kodak wurde, stand erst einmal unter dem Slogan: „You Press the Button, We Do the Rest“.

Zugegeben, das ist auch Fotografie, aber eine andere Art der Fotografie als das, was Mayr macht. Wer das nicht glaubt, möge einen einfachen Test absolvieren. Lassen Sie ein Foto Ihrer Wahl auf eine Seitenlänge von 1,5 Meter aufblasen, Dann sehen Wir, was Sie handwerklich drauf haben.

Seit Eastman und seiner Box haben wir durch Fotografie und Malerei völlig anders zu sehen gelernt. Wir werden dabei zuweilen von Bilderfluten weggeschwemmt. Unter solchen Bedingungen halte ich die konsequente Arbeit an Themen und Handwerk für wesentlich.

Hinter dem, was sinnlich erfahrbar ist, liegt eine Menge.

Mein Fazit lautet übrigens, daß Mayr nicht Realität abbildet, sondern Realität erschafft. Weshalb? Weil „Realität“ eine Kategorie unserer Spezies ist. Ein Konstrukt in der Annäherung an das, was der Fall ist. Annäherung!

Was Sie anläßlich dieser 37. Episode im Fenster sehen, war so in der freien Natur nie vorzufinden. Dabei spielt die Reproduzierbarkeit des Mediums, die Anzahl der Prints, keinerlei vorrangige Rolle. Der Fotograf Mayr bietet Ihnen hier eine Wahrnehmungserfahrung, die Sie ohne seine Leistung so nicht machen könnten.

Freilich ist unabhängig davon eine physisch dingfeste Natur vorhanden, die man als „real“ definieren könnte, um nicht in dem verlorenzugehen, was sich alles auftut, wenn wir etwa über die molekulare, atomare oder subatomare Ebene nachdenken.

Aber die Natur ist ja einerseits nur das, was uns dank unserer Sinne wahrzunehmen möglich wird. Andrerseits sind da unbestreitbar Zustände und Prozesse, die das weit übersteigen, was wir zu wissen meinen, was wir erfahren können. Wir müssen darüber nicht streiten. Es gibt Dinge, Welten, Zustände außerhalb unserer Wahrnehmung. Die nenne ich aber nicht Realität, sondern Transzendenz.

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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