Wien: Gedichte

Ich brauche oft lange, damit ich zu eigenen Texten genügend Abstand bekomme, auf daß ich sie unbefangen lesen oder hören kann.

Kammerschauspieler Franz-Robert Wagner im Tonstudio

Das ist wichtig, um etwa allfällige Schwächen feststellen zu können. Im ersten Akt des Schreibens ist mir jeder Text, den ich nicht sofort verwerfe, ein gelungenes Stück. Geraume Zeit bleibe ich dafür blind und taub.

Wenn nun ein versierter Schauspieler meine Texte liest, passiert etwas wesentliches. Erst einmal holt er sie aus der Abstraktion des Textes heraus, zurück in die Sprache. Das sind ja zwei grundverschiedene Zustände. Zweitens erschafft er sie gewissermaßen auf die nächste Art.

Das bedeutet, Melodie, Rhythmus, Betonung einzelner Worte oder Passagen, der Mann setzt das anders als es in meinem Kopf geschehen ist. Dadurch lerne ich meine Texte neu kennen. Man mag hier eine Debatte über „Originaltreue“ aufmachen, die mich auf solche Art nicht interessiert.

Franz-Robert Wagner (links) und Richard Mayr.

Unsere Wahrnehmung kann über die Reflexion zu konkreten Texten führen, welche in Schrift festgehalten werden. Das ist ein enormer Abstraktionsakt; erst über die Sprache, dann eben in der Kodifizierung als Schrift. Der Schauspieler holt die Inhalte aus der Schrift ab, führt sie mit seiner Deutung in ein geatmetes und daher klingendes Leben zurück.

Das ergibt zwingend eine völlig andere Situation als es mein Schreibakt gewesen ist. Während ich Franz-Robert Wagner im Tonstudio beim Lesen meiner Gedichte zuhören konnte, war die vorteilhafte Entfremdung für mich so erheblich, daß ich etliche meiner Texte gar nicht als meine Texte empfand.

Getrennte Sphären, kontrastreiche Deutungen…

Damit komme ich mit einer Dimension der Texte in Berührung, für die ich allein nicht hätte sorgen können. Es mag schon sein, daß andere Schreibende so einen Ereignis-Raum nicht ertragen, nicht zulassen können, demnach auf einem individuellen Konzept von „Originaltreue“ bestehen müssen.

Ich aber war ohnehin schon der Souverän meiner Texte, nämlich in jenem Schreibakt, dem die Prüfung folgte, um festzustellen, ob diese und jene Gedichte etwas taugen. Es kann außerhalb meines Inneren keinen höheren Grad der Authentizität geben.

Das bedeutet für mich, wenn ich mich nun auf andere Menschen einlasse, dann dürfen auch meine Gedichte mir in einem bestimmten Ausmaß aus den Händen genommen werden und sich in Aspekten, in Nuancen verändern. Es ist ein Beispiel dessen, was ich unter kollektiver Wissens- und Kulturarbeit verstehe.

Richard Mayr befaßt sich u.a. seit Jahren mit den Irish Travellers.

Dabei kann es nicht darum gehen, mich als Monument aufzurichten, sondern es dreht sich so ein Vorgang um die Möglichkeiten, ein relevantes Geistiges Leben mit realem Raum und mit anderen Menschen zu verbinden. Das nimmt den Gedichten nichts von ihrer Autonomie. Es stellt sie bloß in einen anderen Zusammenhang.

Übergang
Das letzte Foto auf dieser Seite zeigt Richard Mayr (im Haus amadeus contemporary bei Karl Irsigler) mit einem Foto aus seiner Arbeit über Irish Travellers, die er heuer wieder besuchen wird, um das Thema zu vertiefen. Dazu komme ich in einer der nächsten Notizen.

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