Rechtsruck: Die Juden

Wie soll ich mir erklären, in welchem Maß und auf welche Art in meiner Umgebung antisemitische Töne zunehmen, ohne daß ich deutliche Einwände höre?

Die Grazer Synagoge (Foto: Ralf Roletschek)

Wie soll ich mir erklären, daß sowas auch beim Kulturvölkchen vorkommt? Offen antisemitische Äußerungen höre ich freilich nur in persönlichen Gesprächen. Es hat ja auch die Neue Rechte in den letzten Jahrzehnten gelernt, daß man derlei nicht via Medien verbreitet, weil einen das juristisch angreifbar machen würde.

Also wird der Antisemitismus kodiert. So kommt er dann zum Beispiel in den Social Media nicht als individuelle Aussage daher, die zitiert und sanktioniert werden könnte. Er kommt über die Zwischentöne in geposteten Memes und Videoclips, in entsprechenden Zitaten anderer Quellen.

Das heißt, es kursieren allerhand Botschaften, die antisemitisch gefärbt sind. Dabei ist mir völlig egal, ob den Absendern solcher Informationen das bewußt ist oder nicht. Mindestens wer solches Zeug verfaßt und publiziert hat, wußte, was das soll. Und wer es postet, nimmt in Kauf, auf Kosten anderer zu expandieren.

Aber was soll das?
Ich kenne keine Ressentiments, die historisch älter, die umfassender erprobt und praktiziert wären, als der Antisemitismus. Diese schäbige Entlastungsstrategie von Menschen mit Kompetenzdefizieten ist offenbar unausrottbar.

Dieses Fehlverhalten beschädigt unsere Gemeinschaft in zwei Richtungen. Die eine Richtung: Wer sich auf solche Art eine persönliche Spannungsabfuhr gönnt, leistet sich eine schäbige Anmaßung gegenüber den Jüdinnen und Juden, mutet ihnen Affronts zu, die unakzeptabel sind.

Die andere Richtung: Wer auf solche Art andere zu Schuldigen erklärt, drückt sich damit selbst vor der Verantwortung, sich eines konkreten Problems anzunehmen. Mit dem infamen Bezichtigen eine ganzen Gruppe von Menschen hat man nicht nur diese Menschen brüskiert, sondern sich selbst großzügig aus der Zuständigkeit für eine Problemlösung entlassen.

Wie? Weshalb?
Wer irgendwen per Stereotyp zu „Schuldigen“ erklärt, egal, ob in Wirtschaft, Politik, Kultur, Bankenwelt oder Gesundheitsweisen, stellt damit auch fest, daß es ein konkretes Problem gibt; und zwar eines, um das er oder sie sich nicht kümmern werde, weil ja „die Juden“ daran schuld seien.

Aus der Hausbibliothek meiner Eltern: Wilhelm Busch [Große Ansicht]

Dazu kommt die Selbstdefinition durch Feindmarkierung. Das ist ein Trick, mit dem man sein schwächelndes Ego maskiert. Auch das ist ein Betrug am Gemeinwesen, da man sich um die eigene Arbeit an einem redlich gebauten Selbstbewußtsein vorbeischwindelt. So belastet man andere Leute und bleibt selbst relevante Beiträge zum Gedeihen des Gemeinwohls schuldig, weil diese Art der Schwächlinge ja in manchen Belangen von anderen Leuten mitgeschleppt werden müssen.

Das hat, wie erwähnt, in jüngerer Vergangenheit zugenommen. Überraschend für mich: auch im Kulturbetrieb. Und plötzlich erklären mit Leute zum Beispiel der Juden „Schuld“ an einem räuberischen Kapitalismus, reißen allerhand Teilzeit-Genies das Maul auf, die mir aber weder erklären könnten, was genau an Börsen geschieht, noch was eine Investmentbank von der Bank bei mir ums Eck unterscheidet.

Ich höre solchen Leuten zu und merke, daß ihnen der Unterschied zwischen Hauswirtschaft und Volkswirtschaft überhaupt nicht klar ist. Von Kenntnissen der Kultur und der Geschichte unseres Landes scheinen sie auch meist unbeleckt zu sein. Statt sich also Wissen zu erarbeiten und an Lösungen von Problemen mitarbeiten, werten sie andere Menschen ab.

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+) Laufende Notizen

Postskriptum
Die schäbige Skizze mit „Schmulchen Schievelbeiner [Schöner ist doch unsereiner!]“ stammt aus „Wilhelm Busch-Album“ (Humoristischer Hausschatz mit 1500 Bildern). Das Impressum nennt „Copyright 1924“. Das Buch stand in der Hausbibliothek meiner Eltern. Der mutmaßlich zerschlissene Originaleinband ist durch eine jüngere Buchbinderarbeit ersetzt worden.

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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