Es ist eines der bewegendsten Bücher in der Bibliothek meines Lebens. Vor allem, weil es mir von einem Menschen erzählte, der gegen alle denkbaren Widerstände darum gerungen hat, Bücher lesen zu können.
Das war zu seiner Zeit für die Bevölkerung sehr schwierig; für Menschen, die im 16. Jahrhundert nicht zu den „Literati“, zu den lesekundigen und „gebildeten“ Schichten gehörten, Zugang zu Bibliotheken hatten.
Der Buchdruck war freilich schon erfunden. Das vormalige Europa der Scriptorien und handgeschriebenen Bücher konnte die Zugänge zu Wissen sprunghaft ausweiten; aber eben von oben kontrolliert.
Deshalb hat mich die Geschichte des Menocchio derart bewegt. Er hieß eigentlich Domenico Scandella, war ein Müller im Friaul. Ein Mann voller Wissensdurst und ziemlich unerschrocken. Bücher sind, wie angedeutet, für ihn teure Wertgegenstände gewesen, kaum erschwinglich.
Es gibt keine Aufzeichnungen, wie viele Menocchio gelesen haben mag. (Mutmaßlich weniger als 20.) Aus der Lektüre und aus Debatten, die ihn schließlich sein Leben kosten würden, bezog er Diskursvermögen und Courage.
Die katholische Kirche zog es damals vor, Literarität, also die Fähigkeit Texte zu lesen und zu verstehen, streng zu verwalten. Der friulanishe Müller mußte sich mehrfach der Inquisition stellen, wurde eingehend verhört, gequält, wegen „besonders schwerer Häresie“ eingekerkert und schließlich auf Anweisung von Papst Clemens VIII. auf den Scheiterhaufen gezerrt, verbrannt.
Historiker Carlo Ginzburg hat die ausführlichen Verhörprotokolle durchgesehen und dieses Buch verfaßt, das zu einem Meilenstein der Geschichtsschreibung wurde: „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“.
Ich war sehr davon berührt, daß sich bei und durch Lektüre Verstand und Emotionen entfalten können, wie es da beschrieben ist. Aus eigenem Antrieb eines offenbar zielstrebigen Mannes, ohne Bildungseinrichtungen, die einen Doktorgrad vermitteln können. Der Müller war fähig, seine Inquisitoren inhaltlich herauszufordern.
Ich sah das als Beleg für meine bevorzugte Annahme, daß die Natur Talente blind ausstreut. In jedem entlegenen Graben, an jedem schwer zugänglichen Hang kann etwas davon auftauchen. Falls sich derlei Talent äußert, werden eventuell etablierte Autoritäten zuschlagen, denn Definitionsmacht ist ein besonderes Gut.
Nebenbei bemerkt: die Aufklärung setzte erst rund hundert Jahre nach Menocchios Tod im Feuer ein. Es gibt also einige Belege dafür, daß sich Geist, Kritikvermögen und die Kraft, im Denken über Konventionen hinauszugehen, auch ohne besonderes Umfeld oder bloß in den Zentren entfalten können. Wissenserwerb und Kompetenzgewinn sind nicht daran gebunden.
Wie es Immanuel Kant 1784 formuliert hat, ginge es um “den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.” Das meint: “Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.”
„Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“ von Carlo Ginzburg ist erstmals 1976 in Turin erschienen.
+) Bücher (Szenen aus meiner Hausbibliothek)