Ich digitaler Neandertaler

Ich setze erste seit kurzen Hashtags ein. Sie nützen mir bei Instagram, wo ich erst ein paar Monate präsent bin, um einige meiner Themen für mich selbst zu sortieren.

Im Bemühen um Publikum bin ich dagegen völlig Old School. Ich setze auf Mundpropaganda und die Neugier von Menschen. Ich mag die Vorstellung, daß sich laufende Erzählungen entfalten und Menschen dabei mitnehmen.

Klar! Das ist nicht zeitgemäß. Aber es gefällt mir viel besser als allerhand Postings, deren Liste an Hashtags länger ist als das Statement selbst. Sowas halte ich für einen Witz. So produzieren sich Wichtigtuer, die eigentlich nichts zu sagen haben.

Ich kenne den Einwand, es sei doch auch ein Wichtigtuer, wer viel zu sagen habe, aber nicht gehört wird. Okay. Gekauft! Ich mokiere mich über Quotenkaschperln, andere halten mich für einen Schwätzer. So geht eben pluralistische Gesellschaft.

Wie konnte aus mir bloß so ein digitaler Neandertaler werden? Ich war doch eben noch Netzkultur-Avantgarde. Ich bin online gegangen, da wußte um mich herum kaum jemand, was das ist: online gehen. Ich hatte in den 1990ern meine kulturelle „mBox“ schon in Betrieb, da war für uns das WWW noch unerschwinglich. („Der kurze und einfache Weg in die MBox Eine Einstiegshilfe für die DOSe. Mac-User hätten nun die FALSCHE Disk in Händen.“)

Als wir im Milieu Ende der 1990er debattiert haben, wozu es einen „Austrian Cultural Backbone“ geben solle, standen etliche Anliegen im Zentrum dieser Überlegungen, von denen annähernd nichts geblieben ist. Das Web wurde etwas völlig anderes. Dafür haben sich seither erst einmal „Flames“ in Newsgroups entfaltet, um später Shitstorms in den Social Media zu werden.

Trolle gab es in den Pioniertagen schon. Neu ist, daß man dazu heute keine Menschen mehr braucht. Geeignete Software schickt Avatare los, welche Debatten manipulieren und Wahlen beeinflussen. Es interessiert mich gar nicht, weitere Listen von Mißständen im Web zu erstellen. Die Flut ist über mich hinweggegangen. Stellenweise verbrannte Erde. Stellenweise watet man im Dreck. Darauf habe ich keinen Einfluß.

Aber einzelne Menschen können für Nischen sorgen, in denen Wissens- und Kulturarbeit ernsthaft betrieben wird, in denen relevante Geschichten erzählt werden. Ich hab auch begriffen, daß man sich deshalb nicht gegenüber anderen erhaben fühlen kann. Schund und leichte Kost der Unterhaltungsindustrie werden in großen Dosen konsumiert. Das ist ähnlich ertragreich wie die Waffenindustrie und der Menschenhandel. So lassen sich enorme Geldsummen bewegen.

Ich fühle mich nicht darauf angewiesen, meine Selbstdefinition durch Feindmarkierung umzusetzen. Es erscheint mir weit reizvoller, mich über das zu definieren, was aus mir heraus gelingen mag. Ich halte es für keine relevante politische Äußerung, Andersdenkende zu beschimpfen. Gewalt durch Sprache ist allgegenwärtig und langweilt mich zu Tode.

Ich verstehe, daß Trommeln zu praktisch jedem Geschäft gehört. Aber Marktschreier finde ich lächerlich. Als ich meinen Twitter-Account gelöscht habe, war es mir zu dumm, jeden Tag markige Sätze rauszuhauen und das in Hashtags einzuwickeln.

Instagram nutze ich anders. Man könnte es poetische Fingerübungen nennen. Es geht darum, das Denken, Formulieren und das Zeigen andauernd zu praktizieren, um sich in solcher Praxis zu entwickeln. Würde mein Leben qualitativ gewinnen, wenn ich dort nun 20.000 Follower hätte? Nein! Außer ich würde via Insta ein Geschäftsmodell betreiben, das mit Geld bringen soll. Ich aber handle mit anderen Gütern. Dabei ist Geld bloß eine von mehreren Währungen.

+) Übergänge (Die Arbeit an einer nächsten Erzählweise im Web)
+) Krusche auf Instagram
+) Netzkultur (Übersicht)

Postskriptum
Ja, ich weiß! Sauber formuliert sollte es eigentlich „Ich, der Neandertaler des Digitalen“ lauten. Aber für die Headline war mir das einen Hauch zu lange. So viel Marktschrierei muß sein!

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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