Der Fluß mit seinen Biegungen. Die Mühlen. Die Gasthäuser. Brücken und Stege. Kreuzende Routen. Ich hab noch nie zuvor in kurzer Zeit so viele verschiedene Gräser gesehen.
Diese Wochen der Erkundung des Flusses Raab erstaunen mich laufend. Es kam mir auch das noch nicht in den Sinn: es gibt so viel zu wissen, um wenigstens eine skizzenhafte Vorstellung zu gewinnen, was einen Fluß ausmacht. Ein Fluß mit seinen einmündenden Bächen und stehenden Gewässern in der Nähe.
Gibt es Menschen, die wenigstens etwa die Hälfte der Pflanzen benennen können, welche man in den Auen findet? Und zwar vom Quellgebiet bis zum Ende. Ich nehme an, ein starker Regenguß ändert jedesmal etwas an der gesamten Situation. Wo Menschen nicht mit baulichen Maßnahmen eingegriffen haben, verlagern sich die Ufer permanent. Überall reagieren Tiere auf jede Nuance des Geschehens.
Ich bin kürzlich auf der ungarischen Seite in einen Schilfgürtel hineingegangen, entlang einem schmalen, ausgetretenen Pfad, der mutmaßlich von Fischern stammt. Das Schilfrohr ist so hoch gewachsen, daß es einen völlig den Blicken anderer entzieht. Man betritt eine eigene Welt der Geräusche und Gerüche, des gebrochenen Lichts.
Auf diesem Pfad mit seinem weichen Boden dachte ich an die buddhistische Auffassung, was Karma sei. Nein, nicht Schicksal, sondern Folgerichtigkeit. Alles hat Konsequenzen. Nichts ist egal. Das kann man ignorieren, wenn man in Verhältnisse gebettet ist, die viel Spielraum bieten. Da mag Achtlosigkeit problemlos von den Umständen geschluckt werden. Aber wie viel Spielraum haben wir für Ignoranz?
Ich hatte vor vielen Jahren ein Gespräch mit dem bosnischen Autor Dzevad Karahasan. Von dieser Begegnung notierte ich mir unter anderem seinen Satz: „Die Kunst schützt uns vor Gleichgültigkeit, der Mensch aber lebt, solange er nicht gleichgültig ist.“ (Quelle)
Dzevad sagte auch: „Als Journalist mußt Du eine Leserschaft ansprechen. Als Schriftsteller einen einzelnen Menschen. Meine Aufgabe liegt darin, daß ich Dich in Deiner absoluten Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, irgendwie berühre und anspreche. Verstehen wir uns? Ich hab keine Leserschaft. Ich hab Gesprächspartner.“
Gehen Sie davon aus, daß diese Auffassung sehr genau meinen Geschmack trifft. Ich hab erst kürzlich, wenige Tage vor meinem Gang in den Schilfgürtel, diese Glosse verfaßt: „Ich digitaler Neandertaler“. Ein selbstironisches Statement, mit dem ich betone, daß mir nichts an den möglichen Follower-Massen in den Social Media liegt.
Zitat: „Klar! Das ist nicht zeitgemäß. Aber es gefällt mir viel besser als allerhand Postings, deren Liste an Hashtags länger ist als das Statement selbst. Sowas halte ich für einen Witz. So produzieren sich Wichtigtuer, die eigentlich nichts zu sagen haben.“ (Quelle)
Aber ich schweife ab. Als wir diesmal losgezogen sind, Fotograf Richard Mayr und ich, lag uns vor allem daran, einige Mühlen aufzusuchen. Das ist ein großes Thema entlang der Flüsse. Allerhand Straßennamen und Ortsbezeichnungen erzählen noch von der Dichte, in der sie bei uns bestanden haben.
Die Kraft des Wassers ist in so vielen Mechanismen aufgegangen, von denen das Leben unserer Leute gewandelt wurde. Sehr wesentlich, um eintönige, kraftraubende Arbeiten zu reduzieren.
Der Begriff „ausgeschunden“ dürfte weitgehend in Vergessenheit geraten sein. Ein „ausgeschundener Körper“, das meint einen von körperlichen Strapazen gezeichneten und beschädigten Leib. (Das meinte auch: verkürzte Lebenszeit.)
Wenn man das in einem groben Bogen denkt: das Leben, somit wir alle, kam ursprünglich aus dem Wasser. Das Wasser hat uns aus großen Strapazen entlassen. Historisch betrachtet: keine Dampfkraft, keine Elektrizität ohne Wasser. Davon wird noch zu erzählen sein…
+) Die Raab (Eine Erkundung)
+) Richard Mayr