Sagt jemand Volk, weiß ich erst einmal nicht, was genau gemeint ist. Das muß dann aus dem weiteren Zusammenhang klar werden.
Meint die Person das Staatsvolk, also Demos? Oder ist Ethnos gemeint, eine Gemeinschaft, die sich kulturell definiert? Welches „Wir“ bilden die Menschen einer Nation? Kann es nur eines sein? (Wohl kaum!) Ein Staatsvolk (Demos) mag aus vielen kulturellen Gemeinschaften (Ethnien) bestehen.
Meine Leute hatten im vorigen Jahrhundert die abwegige Vorstellung, Demos und Ethnos müßten sich weitgehend decken. Die Idee: Nur wer ethnisch zu uns gehört, kann auch Teil des Staatsvolkes sein. Alle anderen Menschen wurden als fremd, artfremd, andersartig, minderwertig etc. angesehen. (Wurden? Das kommt immer noch vor.)
Mehr als ein halbes Jahrtausend das multiethnische Haus Habsburg, dann ein Reich mit einem Volk und einem Führer? Das hat sich nicht bewährt. Die Bemühungen um ein ethnisch homogenes Staatsvolk, das in Sprache, Gebräuchen und Codes keine wesentlichen Kontraste aufweist, kostete immer viele Leben, löste stets ein großes Morden aus und handelte von Deportationen.
Wir haben das am Untergang Jugoslawiens erneut überprüfen können. Ein weitreichende Katastrophe, von der sich die Balkanvölker bis heute nicht erholt haben.
Und heute?
Österreich ist eine Nation. Klar definierte Landesgrenzen. Verfassung, Gewaltentrennung, Rechtssicherheit, etc. Volk/Demos meint in Österreich heute Menschen, welche die Staatsbürgerschaft haben. Ihre ethnische Zugehörigkeit spielt dafür absolut keine Rolle.
Der Begriff Staatsvolk könnte im günstigsten Fall freilich auch jene einbeziehen, die in Österreich ihren Lebensmittelpunkt haben und sich der Gemeinschaft verpflichtet fühlen; auch ohne Staatsbürgerschaft. Ungefähr das meinte Ernest Renan, als er am 11. März 1882 in der Sorbonne eine Vortrag hielt:„Was ist eine Nation?“
Renan wörtlich: „Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen einen andauernde Behauptung des Lebens ist.“ Er meinte in dieser Rede auch: „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden.“ (Quelle)
Renans interessante Auffassung von einem „täglichen Plebiszit“ als zivilgesellschaftliche Gesamtleistung schlug sich bei ihm freilich nicht mit seinem Antisemitismus und seiner Befürwortung von kolonialen Aggressionen. Bei uns wurde „Nation“ nicht (à la Renan) so nüchtern politisch gedeutet, sondern eher kulturell/ethnisch. (Die Folgen waren Auschwitz und Srebrenica.)
Wir haben seit dem 19. Jahrhundert kontrastreiche Interpretationen dessen kennengelernt, was eine Nation sei, ein Staat, ein Volk, eine Ethnie. Ich gehe davon aus, daß es zu weiteren Neudeutungen kommen wird.
Nach all dem Töten im 20. Jahrhundert sollte die aktuelle Ordnung aber vorerst als gesichert gelten. Keiner unserer Nachbarn würde es hinnehmen, falls wir Österreichs Grenzen nach außen verschieben wollten. Was ein moderner Nationalstaat sei, eine Republik, die der Demokratie und den Menschenrechten verpflichtet ist, muß als ein sehr junges historisches Phänomen gelten. (Und wie Rußland zeigt, es ist nicht universell.)
Meine Leute hatten davor noch den Austrofaschismus und den Nazi-Faschismus realisiert. Der österreichische Staatsvertrages wurde am 15. Mai 1955 unterzeichnet. Knapp ein Jahr darauf, im April 1956, kam ich zur Welt. Ich kann also sagen: wir haben noch nicht viel Übung darin, eine zeitgemäße Demokratie zu leben.
Die Verlockung, bei Problemen auf eine menschenverachtende Variation des Nationalismus zurückzugreifen, auch Gewalt anzuwenden, blieb stets lebendig und für manche offenbar unwiderstehlich.