D:Demo #24, Demokratiepolitische Problemlage

Die Gleisdorfer Unruhe hat inzwischen genug Informationen geliefert, damit man recht gut sortieren kann, welche Interessensgruppen hier Programm fahren. Wenn ich einen Teil des Settings etwas polemisch verkürze, ist dieses Fragment auf bittere Art zum Schreien komisch. Da packeln einige Urenkel der Nazi-Horden mit Urenkeln der Roten Armee, um ausdauernd auf die Fundamente unserer Republik einzuschlagen, während sie Bert Brecht zitieren. Das kannst Du nicht erfinden!

Derweil herrscht im Gleisdorfer Rathaus Konfusion und nach all den Wochen der Aufmärsche ist das demokratiepolitische Problem noch immer kein Thema, während sich eine ansässige Bourgeoisie am sozialen Problem (Ruhestörung, Ängstigung der Ansässigen) und am wirtschaftliche Problem (Geschäftsstörung, Umsatzeinbußen) abarbeitet.

Das ist hauptsächliche eine Domäne der ÖVP. Bei den Grünen lese ich auf Facebook, daß Johanna Dohnal ein Thema ist und: „Na? Noch alte Kleidung im Schrank, Spielsachen im Dachboden oder bereits mehrfach gesehene Filme im Keller?“ Bei der SPÖ finde ich aktuell: „Wir begrüßen Ali Kücüker als neuen Pächter des Bahnhofsbuffet und wünschen viel Erfolg.“

Die ÖVP ringt wenigstens merklich um Fassung und um irgendeine Klarheit. Die FPÖ wird keine Einwände haben, weil ein guter Teil der Gleisdorfer Unruhe auf eine Gratis-Kampagne für Herbert Kickl hinausläuft und die regionale FPÖ endlich wieder ein paar Themen hat, die zünden. Bezüglich der hiesigen Grünen bin ich im Augenblick noch ratlos. Bezüglich der Gleisdorfer Sozialdemokratie denke ich mir, die Leute sollten vielleicht – am Grab von Kolo Wallisch knieend – einmal debattieren, warum ihnen zum Zustand der Welt gerade nichts einfällt.

Und der Plan G Gleisdorf, die Plattform der politischen Jugend Gleisdorfs? „Save the date! Flow#market Vol.10 – Secondhand, selbstgemacht & regional“. Ooookay! Wenn die Youngsters grade keine anderen Sorgen haben, was soll ich alter Zausel mir den Kopf zerbrechen? Ich bin Mitte 60 und hatte bisher ein Leben in Freiheit, Frieden, Sicherheit und Wohlstand wie ab-so-lut keine Generation vor mir; und zwar in der gesamten Menschheitsgeschichte. Meine Zukunft ist überschaubar, mein Ablaufdatum in Sichtweite.

Ich sortiere jetzt einmal die Formationen, die mir bei der Gleisdorfer Unruhe besonders aufgefallen sind. Meine Quellen: Augenschein vor Ort, Slogans und Ansprachen bei den Protestmärschen, Postings in den Social Media und persönliche Gespräche. Ich begnüge mich mit den auffälligsten Motiven und werde kleinere Details aussparen. Ich ordne meine Skizze zeitgeschichtlich, was meint, nach meiner Auffassung des Ablaufs im Erscheinen.

Antisemiten
Das ist die älteste Interessensgemeinschaft und übrigens eine einstmals reichhaltige Quelle der Mittel politischer Mobilisierung, längst bevor die Nazi kamen; und zwar auffallend stark von Österreichs Christlichsozialen genutzt, deren Nachfahren mir heute eine ziemlich schlampige Kommunismus-Exegese zumuten, aber darauf nicht eingehen möchten. (Siehe dazu den aktuellen Essay „Der Anfang des Befreiungskampfes aller Arier“ von Klaus Taschwer!)

Hitler-Nostalgiker
Die unterscheide ich bewußt von den Neonazi, weil sie Hitler auf eher romantische Art beeindruckend finden, ohne das solide ideologische Fundament und den Mobilisierungswillen der Neonazi zu zeigen. Sie erscheinen mir als Menschen, die auf eine verwirrend komplizierte Welt mit radikaler Komplexitätsreduktion reagieren und sich das dann zum Beispiel so zurechtbasteln: „Der Hitler hat eh ganz gute Ideen gehabt, aber die kleinen Hitlers haben ihm das verhaut.“

Neonazi
Organisierte und ideologisch stabil auftrainierte Kräfte mit einer langen Vorgeschichte in der Zweiten Republik. Die wurden teils noch von Alt-Nazi, also den Originalen, protegiert und sind heute geübte Republikfeinde mit ihren Märtyrern, die auch in Gleisdorf ihre Anhängerschaft haben, wovon ich wenigstens seit den späten 1980ern weiß.

Neofaschisten
Die definiere ich a) nach den Faschismusmerkmalen von Umberto Eco und b) durch den Vergleich mit politischen Formationen in Ländern, welche Neofaschisten als politische Parteien akzeptieren; wie etwa Italien. Ich unterscheide sie genau aus diesem Grund von alten Faschisten, weil sie sich vom Holocaust und Verbrechen und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit abzugrenzen verstehen, was ja auch in Österreich möglich ist. Das deutet also eine legitime politische Partei an, die sich der Assoziation mit den Originalen und den Konzentrationslagern nicht stellen möchten. (In Gleisdorf sind neofaschistische Kräfte im Zirkus enthalten.)

Identitäre
Die halte ich für Trittbrettfahrer der härteren Formationen, vaterländische Gschaftlhuber mit dem brennenden Wunsch nach Ansehen und Wirkmächtigkeit. Daß sie dabei inhaltlich vor allem herumstümpern und ihr steirisches Zentrum ausgerechnet nach Major Hackher benannt haben, spricht Bände. Der war in den Franzosenkriegen Kommandeur eines der peinlichsten militärischen Ereignisse, nämlich der strategisch und taktisch grottenschlechten Verteidigung des Grazer Schloßbergs.

Qanon
Diese antisemitische Sekte ist in Gleisdorf durch Zeichen präsent, ohne sich weiter offen zu deklarieren. In dem Kontext mag diese Formation, mögen aber auch allerhand Splittergruppen von was auch immer, gelegentlich Präsenz ausdrücken, was sich in der Stadt vor allem durch Aufkleber und Kritzeleien, kleine Sprachbotschaften ausdrückt.

Putinisten
Eine Anhängerschaft des russischen Präsidenten zeigt Flagge, auf Social Media findet man dabei Querverbindungen ins neofaschistische Lager und – wenige überraschend – zu Trumpsters & Trumpettes. Putin und Trump als Gewährsleute einer „besseren Demokratie“ sind ja mit Corona sehr populär geworden.

Ferner liefen
Es zeigen sich Spuren von allerhand anderen Formationen des Aktivismus, das reicht von „Trychlern“ aus der Schweiz bis zu etwas korrupten Splittern einer Antifa. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, das detaillierter zu erforschen und zu belegen. Nicht zu vergessen, hier wird ja auch nach Ressourcen geschürft, werden Spenden gesammelt etc. (Dazu gibt es Geschäftsmodelle.)

Es gibt ja auch allerhand Kommen und Gehen. Wenn ich etwa von Gernot „Das Genie“ Gauper derzeit nichts höre und sehe, kann es gut sein, daß er sehr plötzlich wieder auftaucht, um seine Ansichten über „Track Village“ (Zitat!) und unsere Republik zu verkünden.

Ich bin auch übrigens konsterniert, daß ich zu diesem deutlichen demokratiepolitschen Problem von Formationen wie den „Kulturpakt Gleisdorf“, „Zukunft braucht Erinnerung“ oder der „Solidarregion Weiz“ keinerlei Stellungnahme finde, was das Mindeste wäre. So schaut’s aus…

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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