Ich befasse mich gerade mit unserer Tradition, in Krisenzeiten eine Komplexitätsreduktion zu pflegen, die uns zu binären Erklärungsmustern neigen läßt. Morgenland/Abendland klingt da noch harmlos. Chaos/Kosmos, Wildnis/Zivilisation, Zentrum/Provinz … Die Tradition meiner Leute kennt seit etwa den 1890er Jahren zunehmende ethnische Diskurse, bei denen slawische Leute als „Untermenschen“ etikettiert wurden, um durch solche Feindmarkierung die Selbstdefinition billiger zu machen.
Aber das haben wir schon seit der Antike trainiert, als brave Christen es vorteilhaft fanden, im Namen des Juden Jesus von Nazaret gegen jüdische Menschen vorzugehen und auf deren Kosten zu expandieren. Wir haben solche Strategien nie aufgegeben.
Traditionspflege
Antisemitismus ist so sehr Teil unserer Kultur, daß selbst manche Menschen, die sich über Antisemiten empören würden, antisemitische Stereotypen nutzen und weitertragen. Ich hab den aktuellen Stand dieses Problems im aktuellen Buch von Sandra Kreisler nachgelesen: „Jude sein.“ (Ansichten über das Leben in der Diaspora.)
Etwas polemisch verkürzt läßt sich sagen, im Antisemitismus hatten wir stets ein Trainingsfeld, um bei Krisenfällen in Bestzeit von Null auf Betriebstemperatur zu kommen, wenn Reihen dicht geschlossen werden sollten, egal gegen wen.
Wenn jemand solche Strategien nicht aktiv nutzt, so erlebe ich derzeit jedenfalls, wie in meinem Milieu Leute aktuellen Umtrieben ratlos und entsetzt gegenüberstehen, dabei fatal tatenlos bleiben, was enorm gut und komplementär zu den Ausritten der Neuen Rechten paßt.
Ich finde in meinem Umfeld Mischungen aus Inkompetenz, mangelndem Fachwissen und Niedergeschlagenheit ob der Wucht, die wir mitbekommen, wo ein Gemisch allerhand radikaler Formationen sich temporär die Straße holt und in den Medien auf Hochtouren Programm fährt.
Friede, Freiheit, keine Diktatur!
Bei den Gleisdorfer Protestmärschen und Kundgebungen, die euphemistisch als „Spaziergänge“ beworben und demonstrativ der „Liebe“ unterstellt werden, jene „Liebe“, die ja angeblich „nie trennt“, geht man für „Friede, Freiheit, keine Diktatur“ los.
Da zeigt sich schon in dieser frühen Phase dieser Bewegung eine ganze Menge Propaganda, statt Offenheit und Klartex. Dieses Posieren empfiehlt sich als kommende politische Kraft? (Dabei auch der gelbe Judenstern mit der Aufschrift „nicht geimpft“, wie ihn etwa die für Gleisdorf emsig trommelnde Fide Veritas empfiehlt.)
Klar! Hab ich verstanden. Ich bin hier ja der Dorfdepp. Rechne ich heute ein, was mir Videos und Nachrichten aus Österreich wie Deutschland zeigen, daß nämlich journalistische Kräfte und medizinisches Personal beschimpft, bespuckt, bedroht und sogar körperlich attackiert werden, weiß ich: da wird mir frech ins Gesicht gelogen, wahlweise von arglosen Herzchen etwas vorgeflunkert. Da rühren nicht bloß Hooligans um, da machen sich auch SA-Manieren breit.
Im Kern formiert sich ein Mob, dessen Intentionen und Strategien ich kenne. Hinter diesen Gassenhauern lassen sich geübte Kader entdecken. Das Spektrum reicht von Neonazis, Neofaschisten und Identitären allemal zu mäßig inspirierten Regionalkräften der FPÖ, die endlich wieder einmal ein Thema haben, welches boomt.
Hier docken inzwischen trittbrettfahrende Goldgräber an, allerhand geschäftstüchtige Demoisellen der Prosecco-Fraktion, der eine oder andere Wegelagerer… Wer auch immer meint, diese Lawine gewinnbringend surfen zu können, steht auf irgendeinem Brett; oder Schlauch.
Und zu all dem diverse Ömpörte, Beunruhigte, auch genug ganz zurecht Verärgerte, denn unser Regierungen haben nun seit dem ersten Corona-Lockdown im Weltmeisterrang gestümpert. (Genau! Plural. Regierungen in Serie.)
Die „Lügenpresse“? Die käufliche Wissenschaft? Korruptes politisches Personal oder mindestens Funktionstragende, die mit unethischem Verhalten aufgeflogen sind? Man möchte es gerade jetzt nicht glauben, aber Österreichs Regierungen der letzten Jahre haben zu jedem dieser Genres reale Beispiele geliefert. (Mindestens ab 2015 mag gelten: So blöd muß man erst einmal sein!)
Ich hab mich in Gleisdorf umgehört. Unter den elftausend Seelen sind wir derzeit nur vier Leute, die mit kritischen Inputs Richtung öffentlicher Diskurse gehen und dabei unter anderem politisch argumentieren. (Ich hoffe, ich hab was übersehen und da treten noch ein paar mehr Leute in Erscheinung.)
Gleisdorfs Politik beschränkt sich im Moment immer noch darauf, in der Öffentlichkeit sozial (Ruhestörung) und ökonomisch (Geschäftsstörung) zu argumentieren. Eine politische Argumentation, eine klare politische Stellungnahme, ist bisher von FPÖ, Grünen, ÖVP und SPÖ nicht gekommen. Und das Kulturvölkchen? Wie erwähnt: vier. Drei Frauen und ich. (Schauen wir, was die nächsten Wochen bringen!)
Strategien? Konzepte? Vorhaben? Das offizielle Gleisdorf mit seinem Kulturpakt hat kürzlich nicht einmal einen relevanten kulturpolitischen Beitrag zur aktuellen Erhebung des Landeskulturreferenten Christopher Drexler („Kulturstrategie 2030“) geschafft. Da wird also nichts Relevantes kommen.
Retro wird zukunftsfähig?
Übrigens! Die Antisemiten und Hitler-Nostalgiker hauen ihre Ansichten bei uns nicht via Megaphon raus. Die wissen, daß sie dafür verknackt werden würden. Aber informell kommen ihrer Deutungen völlig ungeniert zur Sprache.
Ich hab mich erst kürzlich wieder mit einem ganz entspannten Antisemiten unterhalten, der mir erklärte, wie „jüdische Eliten“ das derzeit machen, daß sie die Krise antreiben und sich daran krumm verdienen.
Ich meinte: „Arg! Dann sollten wir uns jetzt einmal schleunigst um die chinesischen Juden kümmern.“ Wieso?“ fragte der Mann. Ich darauf:
„Na schau doch, was wir in Europa insgesamt von China an Waren und Technologie beziehen. Du findest ja längst leichter heraus, was heute in einem Laden nicht Made in China ist. Was wir denen alles an Rechten, Grundstücken und Infrastruktur verkaufen, um ihre Waren zu bezahlen. Griechenland und so. Weißt du denn nicht, wieviel europäisches und amerikanisches Geld längst in China ist, wieviel an Ländereien in Rußland, Afrika und sonstwo chinesischen Unternehmen gehört?“ (Kleiner Hinweis: zwei Drittel des Weltsozialproduktes kommen bald aus Asien!)
„Stimmt!“ sagte der Mann und ergänzte: „Ich hab gar nicht gewußt, daß es chinesische Juden gibt.“ „Die gibt es auch nicht“, erwiderte ich, „aber nach deiner Wirtschaftstheorie, müßte es sie geben.“ Ich blieb mit dem Gefühl zurück, daß ich die Pointe nicht ordentlich rübergebracht hab.