Gleisdorf: Betrachtungen #12

Ich möchte mit eine Shakespeare-Moment eröffnen. Alle Leute mit politischen Ambitionen haben begonnen, sich ihr Pfund Fleisch aus dieser Geschichte zu schneiden. Man könnte freilich auch der griechischen Tragödie anhängen. Die ist kein Tribunal, sondern ein Angebot: durch Schrecken und Mitgefühl kann man zur Katharsis gelangen.

Facebook-Notiz: „zwei stunden gleisdorf vom traktor aus. fühlte mich in der heimeligen kabine des acht-tonners wie queen mum und ihr chauffeur. wir älteren herren hatten in wesentlichen punkten völlig unvereinbare ansichten. und wir hatten einander viel zu erzählen. derweil im stadtzentrum: eine riesige fete der impfgegnerschaft und demokratie-fans.“

Ich schreibe Glossen. Er geht auf die Straße. Ich erkläre mir die Welt in sehr komplexen Bildern. Er bevorzugt knappere, gut überschaubarere Ensembles. Verstehen Sie mich recht, ich halte ohne weiteres für möglich, daß sein Intellekt ebenso leistungsfähig ist wie meiner. Aber er führt ein völlig anderes Leben, hat andere Themen. Und er hat einen sehr großen Traktor. Wie erwähnt, acht Tonnen. (Da falle ich nicht sonderlich ins Gewicht.)

Intrada
Er hatte sich schon vorab bemüht, mich für die Protestfahrt am 17.12.2021 an Bord zu holen: „Hallo Martin, wenn du Lust hast, heute um 16 Uhr, kannst mit einem Traktorfahrer in Gleisdorf mitfahren. lg raimund“. Ich überlegte, wie ich meine Absage elegant formulieren könnte: „wenn es ein lanz bulldog ist“.

Zur Erklärung für jene, denen die alte agrarische Welt nicht vertraut ist: die Wahrscheinlichkeit, daß ein Lanz Bulldog im Korso mitfährt, geht nahe null. (Dieser stattliche Traktortyp kam bei unseren Leuten eher nicht vor.)

Auf dem Gleisdorfer Hauptplatz sahen wir uns dann und er eröffnete das Gespräch ansatzlos. Das war schon Gelegenheit zu erkunden, daß wir in einer ganzen Reihe von Fragen nicht bloß Dissens haben, sondern völlig gegensätzliche Positionen.

„Wenn ich bloß genau wüßte, worum es Euch nun gut“, meinte ich. Eines war schnell geklärt: sie möchten die Impfpflicht verhindern. „Ja, da habt Ihr derzeit Pech“, sagte ich, „denn die kommt wohl. Und das gibt harte Bandagen, wenn ich mir anschaue, was da an Strafen zur Debatte steht.“

„Wir wollen das nicht.“ „Und wie wollt ihr das jetzt verhindern?“ „Das wird sich zeigen.“ „Naja, legale Einwände dürften sich schwer ausgehen. Da bliebe dann nur Terror. Und dafür haben unsere Leute kein Talent. Hatten sie noch nie.“ Er zuckte die Schultern.

„Manchmal bürdet einem die Gemeinschaft Pflichten auf, die einem nicht gefallen“, fuhr ich fort. „Ich hab es seinerzeit auch nicht toll gefunden, Soldat zu werden.“ „Das ist ganz was anderes“, widersprach er. „Das ist gar nichts anderes. Birgt auch gesundheitliche Risiken.“ „Doch, das ist was anderes.“ Sie sehen, das brauchte nun nicht weiter verfolgt zu werden, sowas hat eben Grenzen der Verhandelbarkeit.

Das Politische
Ich versuchte es so: „Wenn ich wenigstens genau wüßte, was Ihr im Detail wollt und wie Ihr es erreichen möchtet.“ Er grinste. Ich sagte: „Im Politischen interessiert mich das immer: welche Mittel sollen angewandt werden?“ Er sagte: „Das weiß ich nicht. Ich fahr hier nur mit.“ „Du bist also gewissermaßen ein Mitläufer?“

Ich gebe zu, das war etwas hinterhältig. Und ich beließ es dabei, denn eines muß klar sein: wer andere zwingt ihr Gesicht zu verlieren, hat damit jede Gesprächsmöglichkeit beerdigt. Das Etikett „Mitläufertum“ ist in keinem Lager freundlich gemeint.

Der Mann lud mich erneut zum Mitfahren ein, ich lehnte wieder ab. Dann sprach ich mit einer Frau, mit der ich mich früher schon über gesellschaftspolitische Fragen unterhalten hatte. Sie trug ein Schildchen am Mantel, das erläuterte, weshalb sie hier war: um im Gespräch zu bleiben, um die Verständigung nicht abreißen zu lassen. Das gefiel mir, denn das war ja auch mein Motiv für den Gang zum Hauptplatz gewesen.

„Dann sind wir also zwischen einigen Links- und Rechtsradikalen hier die Zentralradikalen“, sagte ich scherzend. Während wir uns weiter unterhielten und neben uns die Motoren angeworfen wurden, traf ich spontan eine nächste Entscheidung, die in unserem Gespräch entstand. „Ich fahr doch mit.“ „Mach das“, sagte die Frau. Ein zartes Wesen, das wohl kaum mehr als die Hälfte meines Kampfgewichtes auf die Waage bringt, und in diesem Trubel verblieb, den andere – so hörte ich mehrfach – zum Fürchten finden.

Die Rundfahrt
Ich rief also zum Traktoristen hinauf: „Geht’s noch?“ Na klar ging das. Wir waren dann rund zwei Stunden unterwegs und konnten sehr gründlich durchnehmen, was das alles sein will und worum es dahinter gehe. Sie werden kaum überrascht sein, wir fanden so viele unvereinbare Punkte und Ansichten, da brauchen andere Leute weniger, um sich damit eine lebenslange Feindschaft einzurichten.

Ja und? Und nun? Das war recht flott abgearbeitet. Diese Klärung, in wie vielen Punkten wir unterschiedlicher Meinung sind oder einander sogar widersprechen müssen. Blieb also einige Zeit, um darüber zu reden, was wir allenfalls teilen. Nein, keine Sorge, da kommt jetzt keine plüschige, tränenfeuchte Advent-Verbrüderungs-Szene zweier verlorener Söhne, so eine Art revidierte Kain und Abel-Nummer.

Es gibt nun auch keine Resolution. Was aus diesen zwei Stunden blieb, (von ein paar Fotos abgesehen) ist eine banale Kleinigkeit. Obwohl wir völlig unvereinbare Ansichten haben, fanden wir darin keinen guten Grund, um aufeinander loszugehen. Das ist vorerst alles. Der Traktorist fragte mich, ob wir uns noch kennen würden, wenn wir uns in der Stadt übern Weg laufen würden. Garantiert!

Und weiter!
Es gab im Facebook schon allerhand Reaktionen auf meine Rundfahrt. Darunter auch dieses Motiv, daß man nicht hingehen solle, wo Rechtsradikale zusammenkommen. Meine Position ist klar: „ich würde auch mit mussolini eine landpartie machen oder mit milosevic zum frühstück gehen. mich interessiert sehr, welche intentionen und strategien da derzeit zur wirkung kommen.“

Das ist jetzt übrigens nicht auf den Traktoristen bezogen. Ich hab da ein simples Prinzip. Was sagt jemand? Mit wem umgibt sich jemand? Wie verhält sich jemand mir gegenüber? Das sind meine primären Quellen für die Einschätzung einer Person. (Alles andere ist Kolportage.)

Ich habe es schon mehrfach erwähnt: Wir dürfen alles denken. Und wir dürfen es auch sagen. Dann wissen wir, woran wir miteinander sind. Ich kenne keine sinnvolle Möglichkeit, das zu beschränken. Wir dürfen bloß nicht alles in den öffentlichen Diskurs wuchten, via Massenmedien promoten, hinausschreien, ohne daß es Konsequenzen hat.

Es gibt gute Gründe, daß wir als Gemeinschaft Regeln verfaßt haben, wonach manche Themen sanktioniert werden, wenn man sie zu bewerben versucht. So wie uns die Gemeinschaft auch manche Verpflichtungen auferlegt, die uns eventuell mißfallen.

Was aber nun die Lokalpolitik angeht, möchte ich daran erinnern, daß es womöglich zu solchen Situationen beiträgt, wenn im Rathaus an manchen Stellen Protektion vor Kompetenz geht, wenn sich Politik und Verwaltung aus der Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft zurückziehen.

Da kann jetzt viel behauptet werden: „Das machen wir nicht!“ Der Status quo von Gleisdorf sagt etwas anderes. Falls mir heute jemand mit dem Thema „sperrangelweite Türen zum Dialog“ kommt, helfe ich gerne mit konkreten Beispielen von Situationen, die ausdrücken: „Das Einzige, was stört, sind die Bürgerinnen und Bürger“. Schauen wir also, dann sehen wir schon.

Postskriptum
Es gab auch ein paar Mutmaßungen über meine Courage. Die war an diesem Tag nicht gefordert. Nichts bedrohte mich. Es hat mich konkret bloß eine Gefahr erreicht. Beim Heruntersteigen vom Traktor verfehlte ich eine Stufe und es ging im freien Fall rücklings aufs Pflaster. Daraus resultierte ein Adrenalinstoß, der einen putzmunter macht. Ich hab davon ein paar blaue Flecken behalten und mir Muskel gezerrt, von deren Existenz ich schon lange nichts mehr gewußt hatte.

PPS
Übrigens: Freiheit macht Arbeit. Raten Sie, woher ich diese Überlegung bezogen hab!

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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