Ich erinnere mich amüsiert an eine Situation, in der Walter Kurtz, mein vormaliger Vertrauensarzt, grinsend sagte: „Gesund? Das heißt doch nur: nicht genug untersucht.“ Für ihn, den langgedienten Praktiker, war völlig klar, daß Gesundheit eine Relation ist, eine Art Fließgleichgewicht, keine statische Befindlichkeit. Wir hatten eine sehr intensive Zeit, als ich nach einem Verkehrsunfall von der Intensivstation zurückkam und nach Hause durfte, wo ich noch geraume Zeit laufende Wundbehandlung brauchte.
Es war eine meiner grundlegendsten Erfahrungen, wie sehr meine Genesung von der Kooperation handelte, die mir mit Walter gelang. Ein weiter Weg, nachdem Teams der Zweiten Chirurgie in Graz sehr viel Arbeit gehabt hatte, die Verwüstung meines Körpers so gut es ging zu revidieren.
Walter, wie erwähnt, ein erfahrener Praktiker, ich, nachdem man mich unter einem LKW herausgezerrt hatte, der mit einer extremen Krise erfahrene Patient. Wir beide nun Experten für das, was gelingen sollte; eine komplementäre Anordnung. Kann ich verständlich machen, worum es mir da geht?
Kooperative Settings
Die enorme Komplexität eines lebendigen Organismus‘ ist ohnehin nichts, was durch einsame Verkündigungen seitens einer singulären Exzellenz zu sichern wäre. Was für diesen Menschen eine gute Kur ist, kann für jenen zum Gift werden. Ein ganz banales Faktum. Und kein Medikament ohne Nebenwirkungen. Wie aber gehen wir damit innerhalb einer Massengesellschaft um, wenn diese durch eine gesundheitliche Bedrohung längerfristig unter Druck gerät?
Ich nehme an, da sollten kooperative Settings dominieren. Wir sollten mit Dissens leben können und Auffassungsunterschiede als Antrieb verstehen, der uns zu nächsten Klarheiten bringt. Wissenschaft heißt seit jeher: Wir irren uns nach oben. Wissenschaft war nie etwas anderes, seit Logos den Mythos abgelöst hat. An Wissenschaft muß niemand glauben, dafür gibt es Religionen. Mit Wissenschaft muß man arbeiten.
Die Impfdebatte interessiert mich nicht. Bis heute wurden weltweit rund 7,8 Milliarden Dosen verimpft. Dank zeitgemäßer und daher extrem leistungsfähiger EDV und Telepräsenz konnte diese enorme Menge an Vorgängen ausgewertet werden.
Natürlich ist es der bisher größte medizinische Versuch der Menschheitsgeschichte. Natürlich bin ich mit meinen drei bisherigen Impfungen eine „Laborratte“.
Nein, ich glaube nicht, sondern ich übernehme Verantwortung, riskiere etwas dafür und trag so dazu bei, daß die Wissenschaft mehr über eine mögliche Kur gegen das Virus herausfindet. Das hab ich für mich entschieden. Andere müssen für sich entscheiden.
Eigenverantwortung
Ich bin Mitte 60. Niemand nimmt mir solche Entscheidungen ab. Niemand bietet mir einen gesicherten Aufenthalt im Leben als einem All-inclusive-Feriencamp. Mein Leben ist das mit den Risiken. Wie erwähnt: ich treffe Entscheidungen, trage die Konsequenzen, rede mich nicht auf andere Menschen raus.
Sehe ich mir an, was Gleisdorfs Bürgermeister Christoph Stark derzeit via Facebook so an Statements zugstellt bekommt, fällt mir auf: da haben allerhand Leute offenbar gestern ihr politisches Erweckungserlebnis gehabt. Und zwar ganz offenkundig dadurch, daß sie eine Einbuße an persönlichem Komfort erleiden mußten. (Naja, es ist eine Seuche, eine Pandemie. Sowas kostet Bequemlichkeit. Sowas kostet auch Leben.)
In diesem Rausfliegen aus diversen Komfortzonen innerhalb eines (im weltweiten Vergleich) sehr wohlhabenden Landes, in diesem Aufbegehren gegen konkrete Einschränkungen und im Ärger über reale Stümpereien unserer Regierung gehen etliche dieser Leute auf die Straße.
Vox populi
Kennen Sie das Sprüchlein „Vox populi, vox Dei“? Daraus leiten manche Leute im denkerischen Kurzschluß gerne ab, die „Stimme des Volkes“ sei tatsächlich Gottes Stimme gleichzusetzen. So geht es eben mit verkürzten Zitaten. (Ähnlicher Mumpitz wie „Mens sana in corpore sano“.) Zu „Vox populi, vox Dei“ gehört dann etwa die kritische Anmerkung, daß die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe komme, so der britische Aristokrat Alkuin in einem Brief an Karl den Großen.
Da ist nun das einzelne Demokratie-Küken, politisch grade frisch erweckt durch aktuelle Unbequemlichkeit, rennt auf die Straße, flattert herum, brüllt mit anderen „Wir sind das Volk!“ und meint, eine gottgleiche Stimme erhoben zu haben, welche Wunscherfüllung nach sich ziehen müsse. Dabei werden auch gleich noch persönliche bis egoistische Partikularinteressen als Anliegen der großen Gemeinschaft verkleidet, daher als „Wille des Souveräns“ einer Republik ausgegeben. Was für eine Anmaßung!
Wer so unterwegs ist, bewegt sich auf der Ebene grantiger Teenager mit unbewältigten Autoritätsproblemen. Erwachsensein geht anders; wie schon erwähnt: ich treffe Entscheidungen, ich trage die Konsequenzen. Wo ich mich allein überfordert fühle, suche ich Kooperation. Ich kläre, was ich mir selbst – als Individuum – schulde und was ich – andrerseits – zur Gemeinschaft beitragen will.
Gleisdorfs Protestmärsche im Corona-Kontext sind ein junges Phänomen. Im günstigsten Fall wird sich daraus etwas von politischer Relevanz entwickeln und so beitragen, daß wir als Gemeinwesen besser durch die aktuelle Krise kommen.
Assoziationen
Die Posen und die Slogans kennen wir von anderen Protestmärschen quer durch Europa. Achtsamkeit ist geboten, weil wir längst sehen, daß unter den gleichen Täfelchen und Fahnen Vaterländische, Identitäre, Staatsverweiger, Nazi, Neofaschisten, Hooligans und allerhand Arten von Leuten, die gerne Radau machen, den öffentlichen Raum bespielen, die öffentlichen Diskurse prägen.
Sie machen nicht nur Radau, sie suchen Anhängerschaft und sammeln Spenden. Anders gesehen: sie bewirtschaften die Krise. Ein lohnendes Geschäftsmodell? Gleisdorfs lärmende Spaziergänge belegen vorerst noch nicht, daß politisch Verantwortung und Sachkenntnis verläßliche Agenda dieser Zivilgesellschaft sind. Da ist mir im Augenblick noch zu viel an Radau und Parolen. „Stark muß weg?“ Kennen wir! Derlei Sprüchlein sind Massenware. „Merkel muß weg!“ „Kurz muß weg!“ Sowas langweilt mich.
Es ist leicht herauszufinden, daß Gernot „Das Genie“ Gauper mit Natascha Strohmeier im Einvernehmen ist, die wiederum mit Monika Donner, da sind wir dann schnell auch bei Martin Sellner und bei Gottfried Küssel. Sind das Leute, mit denen sich Gottfried Lagler assoziiert? Das wird sich weisen.
Kampagnen
Wenn man sich bemüht, eine Community aufzubauen, von einer Bewegung träumt, freut man sich eventuell über alle Menschen, die sich einreihen. Dazu macht man Kampagnen. Ab wann fragt man sich, ob Motive und Zielvorstellungen der eingetroffenen Menschen zusammenpassen? Über Slogans versammelt man eine ganz andere Gemeinschaft als über konkret ausformulierte Inhalte. Ein Mob ist etwas essentiell anderes als eine arbeitsfähige, demokratische Gemeinschaft.
Aus dem vorigen Jahrhundert wissen wir, daß „Der Primat der Tat“ ein Grundelement des Faschismus ist. Diese Freude am Aktionismus ohne viel Rücksicht auf Fragen nach den Inhalten, Methoden und Zielen; so nach dem Motto „Tun ist gut, wenn man tun tut“.
Die Gleisdorfer Protestbewegung wird noch klarer zeigen müssen, was genau man da unter Demokratie versteht und wie man sich demokratisches Handeln vorstellt, das kein Deckmantel für egoistische Partikularinteressen ist, sondern ein Beitrag zu einem stabilen Gemeinwesen.