Gleisdorf: Betrachtungen #5

Was Streitgespräche angeht, kennen wir seit der Antike zwei recht nützliche Kriterien. Wer Erkenntnis sucht, wird Argumente zur Sache (ad rem) bevorzugen. Wer Opponenten umrennen möchte, wird Argumente zur Person (ad personam) bevorzugen.

In einem Streitgespräch weiß ich gerne: Wer spricht zu mir? Aus welcher Position spricht diese Person? Ohne Klarheit darüber brauchen wir kein Streitgespräch, keine Diskussion, dann genügt einseitige Verkündigung vollkommen.

Wenn jemand mit Selbstdefinition durch Feindmarkierung auftritt, also über sich eine Aussage versucht, indem er andere beschimpft und verhöhnt, kenn ich mich auch aus. Das bedeutet meist: vor mir steht ein schlotterndes, etwas schmal geratenes Ego, das sich mangels guter Argumente aufplustert und dafür andere runtermacht. Debatte nutzlos!

Aus rund 40 Jahren Wissens- und Kulturarbeit in der Provinz (abseits des Landeszentrums) ist mir allerdings klar, daß Menschen sich in ganz unterschiedlichen Bezugssystemen wohlfühlen. Da ist in der Verständigung zwischen verschiedenen Lagern oft Übersetzungsarbeit nötig. Oder aber Kommunikation mißlingt und verebbt.

Was ich damit meine? Ein kleines Beispiel. Ich befasse mich seit Jahren mit Klein- und Flurdenkmälern, mit den Intentionen, die dazu führen, mit den Ausdrucksformen. Da gibt es Volksfrömmigkeit und Privatmythologien, die sich keiner höheren irdischen Instanz verpflichtet sehen. Da gibt es amtskirchliche Kategorien, die sich in einer bestimmten Praxis zeigen, im Ritus, in den Konventionen, die von einer klerikalen Elite verwaltet werden. Dann wäre da aber auch noch die Theologie mit ihren wissenschaftlichen Mitteln, die Metaebene.

Wo Menschen hier in der Volksfrömmigkeit zu Hause sind, da in einem Priesteramt, dort an einer Universität, wird ein allfälliges Streitgespräch nur dann gelingen und Sinn ergeben, wenn man sich erst einmal über Begriffe und deren Bedeutungen verständigt.

Rebellen oder Ministranten?
Was sich nun Leute, die ich bei Protesten in Gleisdorf gesehen hab, allenfalls unter einer „revolutionären Praxis“ vorstellen, finde ich rührend. Was mir da als „Freiheitskämpfer“ rekommandiert wurde, ist in meinem Lager ein Ministrant. Sie sehen, unterschiedliche Bezugssysteme. Und wie erwähnt: das Verkünden ist nicht dasselbe wie das Diskutieren.

Wenn etwa Eva B. den Gleisdorfer Bürgermeister via Facebook mit „Denkanstößen“ bestürmt und zu den Protestmärschen notiert: „Wie immer LIEBE, FREUNDE, FREIHEIT. Wer was anderes behauptet, LÜGT!!!!“, sind wir schon tief in einem quasireligiösen Sümpflein mit gefühlten „Wahrheiten“, ergo mit Glaubensgegenständen.

Dann sehe ich, Eva B. promotet überdies „Prof. Sucharit Bhakdi & Dr. Roland Weikl“ und dort lese ich: „Hinter dieser Geschichte steht eine monströse, dämonische, satanische Agenda.“ Die ausdrückliche Nennung der akademischen Titel deute ich als Verbeugung vor den Zertifikaten der Wissenschaftswelt, wie sie anscheinend auch von jenen geschätzt werden, die Wissenschaft demonstrativ verachten.

Begriffe wie „monströs, dämonisch, satanisch“ sind irrational, sind vollkommen ungeeignet, eine seriöse, möglichst unaufgeregte Debatte über ein akutes Problem zu führen. Sprache ist Handeln. Sprache prägt unser Bewußtsein. Wer in solchen Begriffen Programm fährt, auch gut. Dieses Abschweifen ins Jenseitige, ins Überirdische, macht deutlich: Hier wird nicht diskutiert, sondern im Zustand höherer Weihen (Gottesgnadentum?) gepredigt. Kann man machen. Ist bloß für die Bewältigung von Krisensituationen und für Sachpolitik völlig irrelevant.

Verstehen Sie weshalb? Weil solche Gefühlsduselei alles und nichts sagt. Das kann ich als Ausdruck einer emotionalen Befindlichkeit einzelner Personen ernst nehmen, aber ein Beitrag zu relevanten politischen Prozessen ist es nicht. (Der öffentliche Raum ist keine Filiale der Telefonseelsorge!)

Gesinnungsschnüffelei
Ich bin allerdings gegen „Gesinnungsschnüffelei“. Deutschlands „Bleierne Zeit“ mit Rasterfahndungen, Berufsverboten etc., schuf ausreichend Evidenz, wie sehr dadurch ein Gemeinwesen beschädigt wird. Ich bin der Überzeugung, daß Menschen alles denken und auch sagen dürfen, daß es dabei kein Tabu geben kann. So geht Kultur. So geht Demokratie. Doch wir haben aus sehr guten Gründen geregelt, was sanktioniert werden muß, wenn jemand sich öffentlich äußert, sich via Medien mitteilt, eine Auffassung per Massenmedien ausstreut.

Das ist – im Kontrast zu privaten Gesprächen – eine andere Situation. Bezüglich öffentlicher Auftritte und Mediennutzung gibt es einige Verbote. Die halte ich für unverzichtbar, weil uns aus dem 20. Jahrhundert keine Geheimnisse geblieben sind, was Menschenverachtung anrichtet und wohin sie führt, wenn sie via Massenmedien in den öffentlichen Diskurs eingehen darf. (Auch Facebook ist ein Massenmedium!)

Wer da von einer Restriktion betroffen ist und gleich „Diktatur“ und „Zensur“ schreit, ist entweder noch recht unerfahren, was die Res publica und was Politik angeht, oder vielleicht doof, manch jemand sogar erkennbar ein Agent der Blödheit. Daher: Redefreiheit, aber nicht in jeder Situation und dabei nicht in unbegrenzter Reichweite. (Die sogenannten „Neuen Medien“ geben uns dabei immer noch Klärungsbedarf auf.)

Tyrannei braucht Fußvolk
Die Menschheit kam während der längsten Zeit, die unsere Spezies existiert, ohne jene exzessiven Gewaltformen aus, die wir heute kennen. Das begann erst, so sagen klare Belege durch Funde, etwa im Neolithikum. Es expandierte in der Bronzezeit radikal, weil neue Waffentechniken das ermöglichten: Bronzeguß, Serienfertigung etc. In solchen Zusammenhängen bildete sich ein Patriarchat mit enormer Gewaltbereitschaft heraus.

Ich halte dieses Patriarchat mit seiner vorherrschenden Männerkultur für eine Anomalie der Menschheitsgeschichte. Eine historische Episode, die auch wieder enden wird. Bedenken Sie, rund zehn-, zwölftausend Jahre (ab dem Neolithikum gerechnet) sind kein so beeindruckender Zeitraum innerhalb der Erdgeschichte und innerhalb der Geschichte des irdischen Lebens. Sie sind nicht einmal gar so viel Zeit in der Geschichte von Primaten, welche einst die Wälder verließen und in Savannen gingen, um sich zum Mensch der Gegenwart zu entwickeln.

Ich meine also, Menschen sollen uneingeschränkt denken, was ihnen beliebt, sollten auch sagen, was ihnen paßt, solange sie privat sind. Doch der öffentliche Raum und die öffentliche Meinung ergeben andere Situationen. Dafür haben wir Regeln vereinbart, die in unseren Gesetzen notiert wurden. Wem die mißfallen: wir haben politische Prozedere entwickelt, wie man das bearbeiten kann. Das ist naturgemäß langwierig. Wer dem gegenüber mit rebellischen Posen liebäugelt, wer gar meint, bewaffnete Schritte wären zu bevorzugen: Schätzchen, mach so weiter und Du hast ein Rendezvous mit einem polizeilichen Sonderkommando. Wir schauen dann, wie hart Du drauf bist.

Weshalb betone ich das? Ich sehen keine Alternative zum Gewaltmonopol des Staates. Ich bin absolut gegen das Faustrecht. Ich bin unbeugsam für die Gewaltenteilung im Staat. Das schließt die Option aus, sich selbst zum Untersuchungsorgan zu machen, das dann die Arbeit der Jury verrichtet, sich schließlich zum Richteramt aufschwingt und zuletzt als Exekutive strafend einschreitet. Das wäre Tyrannei. Dagegen wäre Roland Freisler mit seinem „Volksgerichtshof“ ja ein Lehrbub gewesen.

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Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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