Das alte Europa und die Welt der Moderne
Frankfurt am Main, 1994
Der lateinische Westen, der griechische Osten… Als hätten sich diese Prägungen nie entfaltet. So erscheinen mir allerhand Debatten, die mich immer wieder umgeben. Byzanz? Ein Haushaltsreiniger? Und Westrom war schon Geschichte, als Ostrom noch bestand. Das kann man sogar entlang dem vormaligen Eisernen Vorhang teilweise noch ablesen. Was schert uns sowas?
Unter meinen Leuten wird oft drauflos debattiert, als wäre unsere heutige Selbstwahrnehmung irgendein Maß der Dinge, das sich flächendeckend anwenden ließe. „Im Mittelalter ist Volksleben und Staatsleben identisch.“ Da zitiere ich den französischen Historiker Jacques Le Goff. Er ist einer jener Autoren, die – wie auch Philippe Ariès – mein Nachdenken über Europa stark beeinflußt haben.
Allerdings erscheint mir Ariès in seinen Büchern sehr spröde, während mir das literarische Erzählen von Le Goff bei der Lektüre weit mehr Vergnügen macht; wie etwa auch der Stil des Briten Eric Hobsbawm.
Damit will ich sagen, daß es einem etliche Historiker nicht gerade schwer machen, die eigene Vorstellung von Europa mit dem anzureichern, was seriöse wissenschaftliche Debatten ergeben haben. „Im 19. Jahrhundert sind die deutsche Literatur und der russische Roman die Lektüre ganz Europas.“ schrieb Le Goff an anderer Stelle. Ein kleiner Hinweis auf Bedeutung und Rang der Kunst in menschlicher Gemeinschaft.
Wer heute fleht, man möge doch die „Systemrelevanz“ der Kunst anerkennen, hat womöglich nicht begriffen, wie dieser Kontinent geworden ist, und was wir dadurch in unserem Teil der Welt genießen dürfen.
Es mag sogar ganz profan aufgestellte Menschen interessieren, was es mit dem benediktinischen Klosterwesen und der Bedeutung des Glockenläutens auf sich hat. Wir leben ja längt in einer Zeit, da Muße nicht mehr als soziokultureller Wert gilt, sondern als Müßiggang denunziert wird und als „aller Laster Anfang“ herhalten muß. Solche Konzepte fallen nicht vom Himmel.
Es lohnt überdies, manchmal über die mittelalterlichen Mängel des Feudalsystems und die daraus resultierende Ungleichheit der Menschen nachzudenken, weil wir heute manchmal ganz erstaunliche Parallelen entdecken können, wenn wir den Zustand von Regierungen betrachten.
Freilich darf man die Denkweisen von heute nicht auf Menschen umlegen, die vor über tausend Jahren gelebt haben. Rückübertragung ist in der Geschichtsbetrachtung verpönt, weil Unfug. Mit der „Bedeutung des Bildungswesens und der Forschung“ sind wir derzeit freilich eher nicht ganz auf der Höhe der Zeit, was dem Hang zur schlampigen Rückübertragung viel Raum läßt.
Ich beziehe mich hier auf einen kleinen Essay, auf ein schmales Bändchen, dessen Lektüre es einem leicht macht, erst einmal herauszufinden, was man vielleicht genauer erkunden und erfahren möchte, wenn man über Europa nachdenkt.
Ich erwähne das, weil man sich dafür nicht plagen muß. Falls man beim Lesen ein paar Punkte findet, Fragen und Überlegungen, die einen ansprechen, bietet die Bücherwelt anschließend reiche Auswahl, um das dann vertiefen zu können.
Dieses Büchlein umfaßt schlanke 65 Seiten, in einem klassischen Layout gesetzt und auf einer Polygraph V 1040 aus dem Jahr 1975 gedruckt. Ich zeig Ihnen dazu den Kontrast. Wenn es in die Details gehen soll, werden die Bücher naturgemäß schnell umfangreicher. Manche lassen sich dann mit einer Hand kaum noch bewegen.
So oder so, lohnende Leseerlebnisse. Wir sind inzwischen in einer Zeit angekommen, da viele Archive bezüglich des 20. Jahrhunderts von Sperren befreit wurden und längst zugänglich sind. Das hat Arbeiten und Publikationen ermöglicht, dank derer wir alte Ansichten überprüfen und – wo nötig – revidieren können.
Le Goff gilt übrigens als Spezialist für mittelalterliche Geschichte, zu der mich auch noch allerhand staunenswerte Klischees umgeben. Stereotypen, die sich aktuell teils dem eher jungen Phänomen ethnisch geprägter Nationalismen verdanken. Da lohnt es sich durchaus, den Blick etwas tiefer in die Vergangenheit zu richten.
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