Sozialgeschichte Österreichs
Wien, 1985
Ich eröffne diese Leiste mit einer grundlegenden Publikation. Vor folgendem Hintergrund. Meine Kindheit war von Doppelbödigkeit durchzogen. Ich konnte erst später herausfinden, worüber meine Leute lieber geschwiegen haben. In der Folge durfte annähernd nichts sein, was es war, denn solche Umdeutungen von Existenzen kontaminieren praktisch alle Bereiche des Lebens.
Manches war offensichtlich. Etwa der vom Schlachtfeld versehrte und verkrüppelte Körper meines Vaters. Auch all die Gewalttätigkeit, vor der einen in meinen Kindertagen niemand bewahrte, war unmißverständlich. Anderes blieb subtil unter dem Teppich, auf dem ich stand.
In meiner Volksschulzeit wurde ich reichlich mit Nationalkitsch gefüttert. (Bis heute ist mir schleierhaft, was etwa ein „Steirisches Liederbuch“ über die Steiermark aussagen möchte.) Wir hatten „Heimatkunde“, lasen in Broschüren wie „Was die Heimat erzählt“, hörten im Advent die schnarrende Stimme von Karl Heinrich Waggerl, der ein braver Nazi-Funktionär gewesen ist, wie viele andere Leute auch, die man uns als honorig vorführte.
Aber später konnte man in der Schule einige Lehrer vom Unterrichten abbringen, wenn man sie dazu ermunterte, uns Kriegserlebnisse zu erzählen. (Darunter so kuriose Figuren wie „Der Held von Montecassino“.) Nein, ich will hier gar nicht auf die Nazi-Ära eingehen, sondern etwas Grundsätzlicheres anreißen.
Ich hab während meiner ganzen Schulzeit eigentlich kein taugliches Bild vermittelt bekommen, wie unsere Leute aus der agrarischen Welt hervorgekommen sind, die Industrialisierung mit all ihren Härten und Vorteilen erlebten, wie Österreich sich wenigstens von der Mitte des 19. Jahrhunderts her rasant verwandelt und entwickelt hat.
Ich wußte nichts von einer ständischen Gesellschaft, von den unglaublichen sozialen Distanzen zwischen den einzelnen Klassen und Milieus, von der „Bauernbefreiung“, den gesellschaftlichen Wirkungen der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, von politischen Kontroversen. Schutzbund und Heimwehr? Keine Ahnung! Klassengesellschaft und Klassenkampf? Keine Ahnung!
Wie war ein Großteil Europas durch ein Meer von Blut gewatet, um aus den Monarchien herauszukommen, in Tyranneien überzugehen, Weltenbrände zu erleben, teils zu verursachen, um Richtung Demokratien aufzubrechen?
Wie konnte der ewige Mangel und die oftmalige Not von vielen Menschen genommen werden? Wann und wie kam die Volksmotorisierung in Gang? Welche sozialen Verhältnisse waren die Grundlagen politischer und kultureller Prozesse, die immer rasanter in nächste Umbrüche gelangten?
Zu all dem wurde mir etwa die Arbeit von Ernst Bruckmüller wertvoll und anregend. Da fand ich den Eindruck, daß mir dieser elende Nationalkitsch und die brüskierenden Lebenslügen erspart würden, all der ideologische Müll, den man mir als Kind und jungen Menschen mit auf den Weg gegeben hatte.
Ich weiß schon, die Geschichtsschreibung ist nur die Deutung von Dokumenten, Artefakten und Berichten. Ideologie spielt da immer mit. Aber wir kennen wissenschaftliche Methoden, wie das ganz gut bereinigt werden kann. Dazu kommt das Angebot, auch andere Arbeiten zu lesen, sie zu vergleichen. Außerdem stehen wissenschaftliche Karrieren prinzipiell zur Diskussion und nach Jahren, Jahrzehnten, entstehen passable Eindrücke, welche Qualitäten, welchen Rang ein Autor hat.
Bruckmüllers „Sozialgeschichte Österreichs“ erschien mir als eine Wohltat an Klarheit, um wesentliche Grundlagen kennenzulernen und einzelne Begriffe nachschlagen zu können, so daß mir verständlicher wurde, wovon die Rede ist, wenn diese oder jene Themen auf den Tisch kamen.
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