Es kam nun mit Afghanistan wie mit Notre Dame, Charlie Hebdo, der schießwütigen Kanaille von Wien und anderen Sensationen, die uns den Alltag bunter machen. Die Kurve der Ömpörung ging kurz hoch, flachte ein wenig ab, brach schließlich. Was nachklingt, sind vor allem schlampige Ferndiagnosen, in deren Getöse fundierte Kommentare leicht untergehen.
Zugegeben, bei der Fülle von Dingen, die mich fesseln, fällt es mir selbst auch schwer, mein Wissen über dieses Land zu vertiefen. Aber hatten wir uns nicht eben erst über das Lager Kara Tepe Gedanken zu machen? Heute erreicht uns eben alles von überall.
Aus welchen Positionen heraus und mit welcher Legitimation möchten wir Menschen ihren Lebensraum bindend vorschreiben? Der Staatsname Afghanistan ist seit 1919 gewissermaßen amtlich. Ein Jahr, das auch für Österreichs Geschichte große Aussagekraft hat.
Meine Leute konnten die Feudalzeit erst nachhaltig beenden und eine Serie völlig untauglicher Regenten loswerden, nachdem das Haus Habsburg in seinen Expansionsbestrebungen Richtung Süden (über die alte Militärgrenze hinaus) einen entsetzlichsten Krieg losgetreten hatte. Der überstieg durch sein Level einer neuen Mechanisierung in seinem Grauen alles, was selbst erfahrene Militärs sich damals hatten vorstellen können.
Bei uns dauerte es noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg, um einigermaßen flächendeckend die alte Kargheit und teils Armut der agrarischen Welt zu beseitigen. Das heißt, unsere Leute hatten damals schon mehr als hundert Jahre des Wandels vom Agrarstaat zum Industriestaat absolviert, einer wesentlichen Voraussetzung für jenen Wohlstand, den wir heute genießen dürfen.
Wir leben seit rund 200 Jahren in einer permanenten technischen Revolution. In den Jahren 1815/1816 fand der Wiener Kongreß statt, um nach Napoleons Kräftespielen Europa neu zu ordnen. In diesen Jahren besuchte Erzherzog Johann von Österreich, der Bruder des Kaisers, mehrmals Großbritannien, die damals führende Industrienation der Welt. Er sorgte für einen erheblichen Know how-Transfer.
Ich schildere das so ausführlich, weil mir in der aktuellen Debatte weitgehend fehlt, daß Afghanistan, ein mehrheitlich sehr karges Land mit großen unwirtlichen Territorien, kein Industriestaat geworden ist, sondern bis heute agrarisch blieb.
Es gab dort auch keine Erfahrungen mit einem starken Zentralstaat, der eine leistungsfähige Verwaltung, ein aufwendiges Bildungssystem und ein durchorganisiertes Militär hätte, einheitliche Rechtsnormen und die nötigen Mittel, um etwa den Handel und andere Außenbeziehungen voranzutreiben, also einige der Aspekte zu forcieren, durch die ein agrarisches Land zum modernen Industriestaat hätte werden können. (Ich übergehe hier weitere Fragen der Topographie und der Ressourcen.)
Mit dieser kleinen Skizze möchte ich herausstreichen, aus welcher Position wir hier im Vorbeigehen über eine fragmentierte Gesellschaft urteilen, die in wesentlichen Teilen eine muslimisch geprägte Stammesgesellschaft ist und genau nicht das, was wir seit Generationen kennen: eine mehr oder weniger homogene Untertanenmasse, die einem Monarchen unterstand, bevor das Feudalsystem endgültig aus unserer Welt kippte und unsere Leben angenehmer wurden.
Da stellt sich für mich die Frage, in welchem Maß wir überhaupt gerüstet sind, erstens im Blick auf Afghanistan zu erkennen, womit wir es da zu tun haben, um zweitens zu klären, in welchem Maß wir Antwortvielfalt ertragen und zulassen können.
Ich muß nicht billigen, was ich über den Status quo Afghanistans erfahre, um wenigstens zu staunen, welche Idee bei uns kursieren, wie sich dieses Land befinden sollte. Aber sind wir sachlich und ethisch auf Stand, daß wir die Bevölkerung eines agrarischen Landes stichhaltig einschätzen können? Angesichts der laufenden Debatten scheint mir, daß vielleicht ein paar Nachhilfestunden zum Thema Kolonialismus anregend wären…
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