(Beiträge und Fragen zu einer nächsten Kulturpolitik)
[Vorlauf] Ich hab diese großen Gegensatzpaare schon erwähnt: Expertenurteil und Massengeschmack. Wahrnehmung (Aisthesis = Ästhetik) und rationale Inhalte (Regeln der Kunst). Wer Definitionshoheit nötig hat, wird diese Kategorien hierarchisch anordnen und kann sich dann erhaben fühlen. Ich sehe sie komplementär zu einander ausgebreitet und finde die Mischformen spannend.
So oder so kann ich individuelle Aussagen treffen, was denn nun Kunst sei und was nicht. Das mag zur Debatte stehen, wo es nötig ist. Es ist zum Beispiel nötig, wenn wir dir Vergabe öffentlicher Gelder verhandeln, die in der Regel immer zu knapp sind. Also will begründet sein, warum ein Budget einerseits verwendet wird und weshalb für etwas anderes gerade nicht.
Kulturpolitik braucht rationale Gründe
Das ist ein wichtiger Aspekt von Kulturpolitik. Entscheidungen treffen und diese begründen. Wo politisches Personal oder Verwaltungskräfte die Begründung verschleiern, verfälschen oder verweigern, wird aus der Res publica eine Res secreta. Dann ist es keine Politik, sondern ein Echo der Feudalzeit.
Bei all dem gab es immer wieder Bemühungen, manche Werke außer Streit zu stellen, also sie zu kanonisieren. Die Mona Lisa des Leonardo. Die Sonnenblumen des van Gogh. Guernica des Picasso. Tomatendosen von Warhol. Das sind populäre Beispiele von Werken, die in unseren bildungsbürgerlichen Kanon aufgenommen wurden und als Kunstwerke abgesegnet sind.
Aber stehen sie deshalb tatsächlich außer Streit? Von Dada und Surrealismus bis zu allerhand jüngeren Antikunst-Projekten ist der jeweils geltende Kanon immer wieder in Frage gestellt worden. Daher wiederhole ich: das ist kein Terrain, auf dem wir Wahrheiten erzeugen, indem wir Widersprüche eliminieren.
Die Debatten enden nie
Sie ahnen nun vielleicht, Kunst ist ein Feld, das wir Menschen aufgemacht haben, um den Geist wach zu halten, indem hier eben genau nichts zu sicheren und endgültigen Klarheiten führt, indem wir einer Debatte als abgeschlossen betrachten. Es kann jederzeit neu losgehen.
Das unterscheidet Kunst ach ganz wesentlich von Religion. Es geht zwar (unter anderem) ebenso um Transzendenz, aber es gibt keinen Papst und keine Dogmen, die anzufechten als unanständig gilt. Es gibt keine Heilsversprechen, auch wenn die bezüglich Kunst gerne erfunden und als Verkaufsargumente benutzt werden.
Hier scheitern meist auch die Hobby-Leute mit ihrem glühenden Wunsch nach Anerkennung und nach Sicherheiten, ihr privates Tun, ihr dekoratives Vergnügen als Kunstpraxis gewürdigt zu sein. Sie suchen Markierungen und meiden den Diskurs.
Ich kann also Werke prinzipiell auf zwei Arten sortieren:
+) Nach sinnlichen Kriterien: gefällt mir oder auch nicht, spricht mich an oder auch nicht.
+) Nach rationalen Kriterien: wo rangiert es nach Regeln der Kunst und laufenden Diskursen?
Ich kann diese beiden Methoden beliebig kombinieren. Dabei erlebe ich mitunter, daß ein Werk mich sinnlich anspricht, aber künstlerisch eher unbedeutend ist. Oder eine Arbeit ist nach Regeln der Kunst bedeutend, aber mir würde sein Anblick keinen Tag fehlen.
Interferenzen
Oder ganz andere Interferenzen. So fasziniert mich Bacon enorm, aber ich würde mir keines seiner Bilder zu Hause aufhängen. An Turner kann ich mich nicht sattsehen und würde jederzeit einen klauen, wenn es leicht ginge. Dali steht in seinem künstlerischen Rang außer Streit, sein Werk ist kanonisiert, aber mich langweilt das genauso wie der ganze Phantastische Realismus aus Österreich. Lüpertz bewegt mich inhaltlich, aber sein Werk spricht mich nicht an.
Merken Sie, was sich da auftut? Fragen Sie sich manchmal, warum es so ein Problem sein soll, daß eine Frage nicht als endgültig entscheidbar gilt? Wir sind in einem Europa aufgewachsen, das zum Beispiel die Psychoanalyse und die Quantenphysik längst kannte, also ich zur Welt kam. Das sind große Domänen des Uneindeutigen.
Dennoch fällt uns offenbar schwer, was jeder Zen-Buddhist per Koan locker aus dem Ärmel schüttelt: das rational Schlüssige, eindeutig Klärbare, einmal beiseite schieben, denn da ist noch mehr, was uns und die Welt ausmacht.
Übrigens!
Fundstücke erlauben uns, der menschlichen Eigenart des symbolischen Denkens, wie es sich eben auch in Kunstwerken ausdrückt, mehr als 70.000 Jahre Dauer nachzuweisen. Das ist etwas mehr Zeitspanne, als all jene Systeme aufweisen können, denen gegenüber derzeit gefleht wird, daß die Kunst „sytemrelevant“ sei. [ Fortsetzung]
— [The Long Distance Howl] —