Was es wiegt, das hat’s V: Radical Chic

(Beiträge und Fragen zu einer nächsten Kulturpolitik)

Dieser Tage hab ich ein interessantes Motiv aufgeschnappt: Auf der Suche nach einem Programm, das bei sich selbst beginnt. Darüber sollten wir ins Gespräch kommen. (Hier geht es dann gleich noch um die belarussische Philosophin Olga Shparaga und den deutschen Schriftsteller Marko Martin.)

Olga Shparaga und Marko Martin (Screenshot SRF Kultur)

Ich hab schon an verschiedenen Stellen notiert, daß ich den rebellischen Posen unserer Leute nicht traue. Da wollen manche im Nähkästchen „elitäre Intelektuellenszenen, Bobo- und Spekulationskunst aufbrechen und zugänglicher machen“, auch wenn völlig ungeklärt bleibt, was das denn sein soll und wo ich mir das anschauen könnte. Was geschieht? Nichts geschieht.

Ich erinnere mich noch gut, wie mitten im Arabischen Frühling eine Kulturgewerkschafterin in Graz das Genre „Protestkunst“ ausgerufen hat. Oder da wählt einer aktuell seinen Buchtitel so, daß er mit dem Wort Widerstand endet, was dazu führt, die bilinguale Publikation auf dem Cover auch noch mit dem Wort Resistance aufzufetten. Das ist kühn, wenn man sich durch seine Existenz eigentlich schon längst in die Kategorie „Lampenputzer“ eingetragen hat.

Kennen Sie das Gedicht „Der Revoluzzer“ (1907) von Erich Mühsam? „War einmal ein Revoluzzer, / Im Zivilstand Lampenputzer; / Ging im Revoluzzerschritt / Mit den Revoluzzern mit / Und er schrie: ‚Ich revolüzze!‘ / Und die Revoluzzermütze / Schob er auf das linke Ohr, / Kam sich höchst gefährlich vor…“ [Quelle]

Inzwischen wäre mit einem Hauch polemischer Verkürzung zu betonen: wer mir dauernd von Widerstand, Ungehorsam, von schändlichen Privilegien und Solidarität redet, sitzt höchstwahrscheinlich bequem auf einem Sofa in den Reihen jener Spießer, die sich durch so ein Gehabe lästige Fragen vom Hals halten möchten.

Derweil grassiert ein Mangel an intellektueller Selbstachtung, was sich dann auch in einem auffallenden Mangel an kritischen Debatten äußert. (Ömpörung und Gezänk ist kein Diskurs!) Wir sind im Kulturbetrieb längst mit einer neuen Bourgeoisie konfrontiert, die sich große Gesten leistet und dabei allerhand Begriffe, die etwa für eine Freelancer-Basis Relevanz haben, einfach kapert.

Welche Relevanz? Wir können keinen brauchbaren kulturpolitischen Diskurs führen, wenn die Begriffe verwaschen sind, beliebig besetzt werden. In der radikalen Sektion: Aufstand, Widerstand, da liegt in der Steiermark zum Beispiel die Latte bei Kolo Wallisch (1889-1934). Das ist eine andere Kategorie als aktuelle politische Auseinandersetzungen, wie wir sie kennen.

Bruck an der Mur, Friedhof St. Ruprecht (Foto: PicturePrince, CC BY-SA 4.0)

Auch dazu ein Gedicht (ca. 1935), diesmal von Bert Brecht. „In Leoben nah dem Erzberg / Nachts zur elften Stund / Hat man den Wallisch gehänget / Als einen roten Hund.“ [Quelle] Wer sich mittels Faustheben mit so einer Geschichte assoziiert, sollte vorher wenigstens den Prosecco wegstellen.

Ausnüchtern
Ich hab den Begriff Radical Chic im Titel dieser Glosse einem Essay von Tom Wolfe entliehen: „Radical Chic und Mau-Mau bei der Wohlfahrtsbehörde“. Ich bin dafür, daß wir unsere Wortwahl abkühlen, ausnüchtern, ein wenig präziser machen. Dabei verbietet es sich, die Biographien und Codes historischer Rebellinen und Rebellen zu plündern.

Wir sollten in der Lage sein, unsere aktuelle soziale Realität in der Wissens- und Kulturarbeit sowie in der Kunstpraxis nüchtern zu beschreiben, um Strategien zu entwickeln, die daran etwas verbessern. Den Hinweis auf die Suche nach einem Programm, das bei sich selbst beginnt, habe ich einem bewegenden Gespräch entnommen.

Dessen Aufzeichnung wurde Ende Mai 2021 in der Reihe „Sternstunde Philosophie“ vom SRF Kultur ausgestrahlt. Die belarussische Philosophin Olga Shparaga und der deutsche Schriftsteller Marko Martin sprechen mit Wolfram Eilenberger über „Formen von Protest – Wie erreicht man Demokratie?“

Ich empfehle diese Sendung dringend! Sie bietet eine Fülle von Details und Anregungen, worum es derzeit geht, wenn wir „nicht mehr dulden sollen, was wir erdulden“. Martins Erfragungen mit radikalen Situationen in verschiedenen Weltgegenden und Shparagas Erlebnisse in Belarus führen – wie könnte es anders sein? – weder zu großen Gesten, noch zu markigen Sprüchen.

Die beiden bieten eine Fülle von Denkanstößen, was Widerstehen in der Praxis bedeuten kann, wenn man mit gefährlichen Kräften konfrontiert ist, mit Staatsapparaten, die ihre bewaffneten Einheiten losschicken, auch mit übrigen Formen der Tyrannei.

Wir Leute des steirischen Kulturbetriebes sind womöglich gut beraten, etwas mehr zuzuhören, wenn Menschen sprechen, die aus ganz anderen Zusammenhägen und Bedrückungen entkommen sind.

Formen von Protest – Wie erreicht man Demokratie?
(Sternstunde Philosophie | SRF Kultur)

— [The Long Distance Howl] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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