Es ist genau so gemeint: ich halte Dissens eigentlich für nützlich, für anregend und unverzichtbar. Er MUSS auffindbar sein, weil wir sonst Prinzipien der Demokratie für eliminiert halten müßten. Sollten wir eine pluralistische Gesellschaft vorziehen, welche Antwortvielfalt sichert, weil wir gemäß einer gängigen Vorstellung von Menschenrechten die Freiheit der Meinungsbildung für genau so ein Recht halten, dann muß es Dissens geben.
Im Artikel 19 der Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen (10. Dezember 1948), bekannt als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, heißt es: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“
Ich ziele zum Einstieg meiner Glosse bewußt so hoch, denn dieser Passus gilt uns als derart selbstverständlich, daran wird dann eigenes Handeln oft gar nicht mehr überprüft.
Ich war in letzter Zeit zunehmend in Debatten verstrickt, die vor allem zu zwei Themen liefen: a) Geschlechteridentitäten und b) männliche Gewalt an Frauen. Siehe dazu meine Glosse „Ausgelagerte Männlichkeit“! Diese Glosse erzählt von einem sehr anregenden Gespräch mit einer versierten Frau, die seit vielen Jahren zu diesen Themen forscht, aber ebenso praktisch arbeitet.
Das Andere in den anderen Menschen
In solchen Dialog-Situationen ist es mir möglich, meine eigene Position darzulegen, um kenntlich zu machen, wovon ich in meinen Fragen ausgehe, um dann eben Fragen vorzubringen, auf die ich Antworten erhalte.
Das ist für mich übrigens kein spezieller Modus zum Thema „Gewalt an Frauen“, sondern es bewährt sich generell bei offenen Fragen. Ein kritischer Diskurs gewinnt davon, wenn die Positionen einer Personen erkennbar sind, weil das die kommenden Aussagen gewichtet.
Außerdem bin ich auf das Andere in den anderen Menschen angewiesen, weil ich es als Kontrastmittel zu meinen Ansichten brauche. Nur so kann ich überprüfen, an welchen Stellen zu arbeiten wäre. Allerdings muß ich mir die Entscheidung vorbehalten, auf welchen Aspekt ich gerade eingehen will und was davon ich nach hinten reihe.
In einer dieser Debatten habe ich kürzlich geltend gemacht: „es fängt womöglich mit einer kniffligen übung an: zu begreifen, daß ich als mann teil einer vorherrschenden männerkultur bin, auch wenn ich nicht ihr agent bin und sein will. ich fürchte, es ist da ähnlich wie mit dem antisemitismus: vieles davon ist einem von klein auf so vertraut, daß es einem nicht als element einer abwertenden kultur erscheint. ergo: das können wir nicht unter uns männern ausmachen, weil es zu viele ‚blinde flecken‘ hat. da bleiben wir auf den dialog mit frauen angewiesen.“
Es ist tatsächlich so, daß ich in der Frage ganz wesentliche Denkanstöße aus der Debatte über den wieder wachsenden Antisemitismus bezogen hab, was eben auch bedeutet: gute Absichten genügen nicht. Ich muß meine Bilder, Stereotypen und Vorstellungen auch an der Meinung jener Menschen überprüfen, die ganz andere Positionen als die meine besetzen.
Ich dachte, das sei in meinem nahen Umfeld geklärt und müsse nicht verhandelt werden. Irrtum! In manchen Menschen arbeiten Sendungsbewußtsein und Mitteilungsbedürfnis derart energisch, daß sie solche Zusammenhänge ignorieren. Da entstehen dann plötzlich gönnerhafte Posen wie:
„…ich gehe davon aus, dass es Männer gibt, die bereits ein anderes Bewusstsein zu dem Thema haben, als andere. Vielleicht bringt ihr mal die auf Stand – das ist Arbeit genug – und parallel dazu können wir uns ja unterhalten.“
Dann wird es paternalistisch: „Versuch dich mal in die Lage der Frauen zu versetzen und denk nochmal darüber nach. Frag dich, was mehr bringt: mir Dialog vorzuschlagen, oder mit anderen Männern in deiner Umgebung darüber zu sprechen. Und gegebenenfalls auch auf problematisches Verhalten hinzuweisen.“
Phrasen dreschen
Dieses abgehalfterte „Entweder-Oder-Spiel“, um eine Anmaßung Richtung Definitionshoheit zu bemänteln, ist durchsichtig. Anderen vorzuschlagen, was sie tun sollen, damit die eigene Lage sich verbessern möge, bleibt diskussionswürdig.
Die Phrase „denk nochmal darüber nach“ ist eine fast noch höfliche Art, um jemanden einen Deppen zu nennen, dem man nun die Welt erklären werde. Das ist leicht als patriarchale Attitüde zu entschlüsseln. Natürlich beherrschen auch Frauen das Mansplaining, wie eben manche Frauen aus dem Repertoire patriarchaler Überheblichkeit gerne schöpfen, um daraus Vorteile zu lukrieren.
Das mag taktischen Nutzen haben, ich kann mir nicht vorstellen, daß es strategisch klug ist. Aber das wird die Zukunft weisen. Wenn ich dann lese: „Frauen haben sich zu dem Thema genug oft geäußert. Jetzt ist eben konkretes Tun auch von Männern angesagt“, sind wir bei einem Whataboutism angelangt, dem ein binäres Doppel-Konzept völlig reicht.
Damit war mir klar, in diesem Teil der Debatte ist nichts mehr zu erfahren, hier wird bloß ein patriarchaler Reflex reproduziert, über den ich nichts zu lernen brauche, denn das ist ja Teil jener vorherrschenden Männerkultur, mit der ich aufgewachsen bin, deren Nutznießer ich nach wie vor bin.
Aber so ist die Zeit: Attitüde geht vor. Pose zählt. Oder ich gehe davon aus, daß nun eben verschiedene Konzepte laufen müssen. Hierarchisch, parallel oder komplementär angeordnet? Einmal dürfen Sie raten, ob ich im Lager des Komplementären stehe.
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