ob wir über musik reden, ob wir über ein gesamtes kulturgeschehen nachdenken, es muß jeweils eine zeit gegeben haben, da waren subalterne schichten in diesen belangen sich selbst überlassen, so lange sie den obrigkeiten gegenüber ihre pflichten erfüllten.
über beweggründe zu diesen kulturformen in einem sozialen und sozialgeschichtlichen zusammenhang können wir nicht viel wissen, weil mögliche aufzeichnungen in der regel von außen/oben kamen.
damit meine ich: wer nicht lesen und schreiben konnte, hatte ja trotzdem kulturelle und spirituelle bedürfnisse, die in einer gelebten kultur ausdruck fanden. was aber an beschreibungen darüber erhalten blieb, stammt nicht von den leuten selbst, sondern kam aus anderer position zustande, sind zuschreibungen, von den interessen der berichterstatter gefärbt.
bei volkskultur als einem künstlerischen genre fallen diese momente gewissermaßen zusammen. ein reales beispiel: die ehefrau eines regional erfolgreichen unternehmers achtet auf qualität und stil. daher ist ihr trachtengewand kein billiger ramsch, wo hundert euro für ein dirndl und alle accessoires reichen.
sie liebt „echte volksmusik“, „echte tracht“, das gediegene. sie hat etliche freundinnen, die solche leidenschaft mit ihr teilen. das ergibt einen „singkreis“, der regelmäßig zusammentrifft. mindestens einmal im jahr wird diese runde auch öffentlich stärker bemerkt.
nämlich dann, wenn der kulturreferent der nächstgrößeren stadt, vormals schuldirektor und engagierter volksmusik-freund, mit dem city-manager daran geht, den advent zu gestalten. das ist primär ein fest der ansässigen geschäfte und soll dem jahresumsatz einen kräftigen schub verpassen, den die KMU alle dringend brauchen.
es ergibt einen adventmarkt im stadtzentrum, der primär kommerzielle gründe hat, über punsch und glühwein aber auch ein starkes potential an geselligigkeit entfaltet. ein geschäftliches ereignis, das unter dem schlachtruf „besinnlichste zeit im jahr!“ ein wenig volkskulturell dekoriert wird.
da singen sie dann, die wackeren frauen aus dem bürgerlichen milieu, und es klingt schön, es handelt von einem kanonisierten repertoire, das wenigsten seit dem 18. jahrhundert von einem engagierten bildungsbürgertum gepflegt und bezüglich „reinheit“ überwacht wird.
sowas hat naturgemäß nichts mit dem einstigen kulturellen leben subalterner schichten zu tun, ist „echte volkskultur“, die von dreck und schweißgeruch, von körperlichen mangelerscheinungen und anderen härten befreit wurde. volkskultur als ein künstlerisches genre.
es ist völlig schlüssig, künstlerische formen aus einer anderen zeit und anderen zusammenhängen weiterzutragen, sich anzueignen. wir tun das ständig. es sollten bloß warnlampen angehen, wenn sich in dem zusammenhang jemand als „traditionsbewahrer“ hervortut und ein genre zu besetzen versucht, andere dabei vom platz weist.
das muß wohl alles in bewegung bleiben. oliver mally, der dem blues verfallen ist, aber natürlich nicht lebt wie ein schwarzer in den südstaaten, sagt dazu: „du kannst nur bewahren, indem du erneuerst und du kannst nur erneuern, indem du bewahrst“. [quelle] (facebook-notiz vom 4.6.21, origami ninja association)