Die Pandemie hat Kontraste verschärft, die uns jene Umbrüche besser sehen lassen, mit denen wir schon ins 2020er Jahr hineingerutscht sind. Inzwischen neige ich zur Ansicht, daß wir im Kulturbetrieb zwischen 2015 und 2020 das Ende einer Ära erlebt haben.
Was bedeutet das? Naja, nicht viel, außer daß ich annehmen muß: viele meiner alten und vertrauten Eischätzungen wie Strategien sind schon oder werden demnächst obsolet. Mir kam in den genannten Jahren vor, daß sich eine Art neuer Bourgeoisie etabliert habe und daß wir über eine nächste Kulturpolitik nachdenken sollten, weil mir die jetzige nicht reformierbar erscheint.
Nun diese Aktion #allesdichtmachen, gewissermaßen ein Geschenk des Schicksals. Besser hätten sich die Schwächen unsere Branche sowie die abgründigen Verfassungen von Teilen unseres Publikums kaum inszenieren lassen. Dabei kam ich nun mehrfach auf diese zwei Fragen:
+) Was macht einen Unterschied zwischen Kritik und Denunziation?
+) Was unterscheidet den Boulevard-Stil von intellektueller Selbstachtung?
Denunziation behauptet und beschuldigt. Kritik nennt die kritikwürdige Stelle, zitiert genau, erwähnt die Quelle des Zitats und formuliert den Einwand. Gegen Denunziation gibt es kein simples Mittel. Sie ist selbst das simple Mittel, um Andersdenkende umzufahren.
Kritik kann ich ihrerseits kritisch prüfen: Gibt es die Quelle? Stimmt das Zitat? Was genau wird dagegen vorgebracht? Idealerweise kann ich mir auch ein Bild vom Kritiker, von der Kritikerin machen: wer ist das? Aus welche Position und mit welchem Hintergrund wird da kritisiert?
Zugegeben, ein aufwendiges Verfahren. Denunziation kommt ganz ohne diesen Aufwand aus, kürzt ab, sagt dem Gegenüber bloß: Du mußt weg!
Auf dem Boulevard zählen schnelle Verfahren und Wow-Effekte. Der Boulevard ist ein Erbe des Circus Maximus. Das muß unterhalten. Das muß flott gehen. Da muß Blut fließen. Boulevard heißt: kurzer Prozeß. Intellektuelle Selbstachtung ist mit solchen Verkürzungen unvereinbar.
Ich spreche hier nicht gegen das Recht auf billige Unterhaltung. Wer sich auf dem Boulevard wohl fühlt, soll sich dort umtreiben. Die Ebenen lassen sich bloß nicht verbinden. Ich kann auch nicht zugleich da wie dort sein. Bilokation? Geht nicht!
Wir müssen uns wenigstens tageweise zwischen Salon und Circus Maximus entscheiden. Geh ich hierhin oder dahin? Wir müssen entscheiden, ob wir heute den Wow-Effekt bevorzugen oder Erkenntnisgewinn. Morgen kann wieder anders entschieden werden. Ich habe nichts gegen Wow-Effekte. Ich will sie bloß vom Erkenntnisgewinn kategorial unterschieden wissen.
Ein Tisch ist kein Sessel. Eine Tür ist kein Fenster. Ein Messer ist keine Gabel. Ein Wow-Effekt ist kein Erkenntnisgewinn. Denunziation ist keine Kritik. Wenn in menschlicher Gemeinschaft Kommunikation gelingen soll, muß ich mir stets neu Klarheit verschaffen, was ein Begriff bezeichnet, weil der Begriff nicht das Bezeichnete ist, sondern ein Medium.