Wir befinden uns in einem Hegemoniestreit. Dabei geht es um Definitionsmacht und Themenführerschaft. Dank niedrigschwelliger Medienzugänge kann eher mühelos mitreden, wer mitreden will. Regeln? Keine Regeln, so scheint es… (Knapp gefaßt: bei Imperien geht es um das Beherrschen von Ländereien, bei der Hegemonie um das Beherrschen von Meinungen.)
Unsere Kultur ist reich an Erfahrungen, wie Mitmenschen zu Gegenmenschen umgedeutet werden. Wenn das geschieht, darf angenommen werden, daß es nicht lange dauert und die Gegenmenschen werden als Nichtmenschen markiert. Über derlei Verläufe sind uns keine Geheimnisse geblieben.
Wenn das 2020er Jahr etwas deutlich gemacht hat, dann den Umstand, daß unsere Gesellschaft derzeit auf hohem Energielevel von teils völlig unvereinbaren Ansichten bewegt wird. Das sollte in einer Demokratie für sich kein nachhaltiges Problem sein. Eine pluralistische Gesellschaft ist auf Antwortvielfalt angewiesen.
Meine individuelle Erfahrung besagt, daß es momentan vielen Menschen auffallend schwer fällt, Argumente zur Sache und Argumente zur Person zu trennen. Mir erscheint dieser Mangel an Trennschärfe als eine wachsende Belastung.
Als Beispiel das Zitat aus einer Post von gestern: „Da Du so sehr gebildet bist solltest Du schon wissen, dass man immer schön in der Mitte bleiben sollte und dass übertriebenes Selbstbewusstsein auch nicht gerade positiv bewertet wird.“ Erwin P. ging in unserer Kontroverse kaum auf Argumente ein, sondern bewertete mein Verhalten. Ein häufig geübter Modus.
Man könnte sagen: wer die Begegnung auf Augenhöhe scheut und seine Gründe nicht nennen will, haut vorzugsweise auf irgendeine Metaebene ab und vergibt Betragensnoten. Das boomt aus verständlichen Gründen, weil man dafür ohne all die Mühen von Wissenserwerb auskommt. Man braucht jemandem bloß seine emotionale Befindlichkeit auf die Füße zu kippen.
Ich höre außerdem, die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen sei leider so kurz wie sie es ist. Das reiche für TikTok-Clips, mehr können man kaum anbringen. Es mag ja sein. Für diese Art des Abfeierns von Ansichten haben wir den Boulevard.
Und wozu hätten wir dann noch seit wenigstens zweieinhalbtausend Jahren Diskursräume, in denen es etwas komplexer zugeht? Na, weil es uns freistehen soll, je nach Laune und Befindlichkeit zwischen den verschiedenen Terrains zu pendeln.
Wäre unser Kulturfeld nur mehr Boulevard, würde ich mir woanders Neuland suchen. Ich bin aber auch mit einer Nische zufrieden, in der gründlicher gearbeitet werden kann, als auf dem Boulevard. In dieser Nische gilt Dissens als anregend. Und es gibt eine kleine Hausordnung, deren erster Paragraph wie folgt lautet:
„Intelligenz ist die Fähigkeit, über zwei einander widersprechenden Ansichten nicht den Verstand zu verlieren.“ (Gezeichnet: Martin Krusche, Autor und Orgami Ninja.)