Oder: Wissens- und Kulturarbeit in Tränen ersäufen?
Vorweg: wie sollte eine relevante Kulturpolitik ohne zeitgemäße Medienkompetenzen gelingen? Wann verhandeln wir wo die konzeptionellen Grundlagen eines Kulturbetriebs nach der Pandemie? Wenn ich mir eine dauerhafte Erregung über Kummer und Ärgernis rund um die Welt gönne, könnte mir schnell die Luft ausgehen, sobald ich mich um konkrete Probleme vor meiner Nase scheren sollte. Können wir über notwendige Balance reden?
Etwas von der Welt wissen, vor Ort sachkundig handeln, das ist eine interessante Aufgabenstellung unter sehr dynamischen Bedingungen. Ich erlebe in meiner Region, daß die Kulturpolitik völlig verstummt ist, daß sich vormals exponierte Kunstschaffende überwiegend in Beschaulichkeit ergehen. Sie haben mehrheitlich nichts zu sagen. (Gut, der Kunst ist das egal.)
Erregte Boten des Unglücks
Dank der aktuellen Mediensituation kann ich mir eine Sicht des Weltgeschehens erarbeiten, wie sie für meine Großeltern undenkbar war, wie sie meine Eltern nicht mehr erlebt haben. Sollte ich mir deshalb nun jeden Tag Videos ansehen, wie zum Beispiel andernorts Polizisten Kinder mißhandeln, Erwachsene klein machen und verletzen?
Ist das förderlich? Was folgt dem? Adäquates Handeln? Das wäre? Ich ahne, dabei entfaltet sich eine Art „aufgeklärter Voyeurismus“. Womöglich bietet solches Entertainment über tiefere Kenntnis von Zusammenhängen einen speziellen Thrill.
Ich mißtraue inzwischen jenen Menschen, die mir via Social Media fast nur noch Kummer-Nachrichten andienen, sonst aber offenbar nichts erleben oder empfinden, was ihnen berichtenswert erschiene.
Es gibt Wochen und Monate, da beschleicht mich ein Pessimismus, was die herrschenden Geschmäcker angeht. Diese Welt, wie sie mir via Medien ins Haus geschoben wird, erscheint dann als groteskes Theater. Was bewegt gebildete Menschen, mir nun über Wochen Tag für Tag Videos mit Polizeigewalt auf den Tisch zu wuchten?
Und wenn es das gerade nicht ist, dann andere Schändlichkeiten. Wie erwähnt, Tag für Tag, von 0:00 bis 24:00 Uhr. Falls es an verlinkbaren Schreckensmeldungen mangelt, kommt wenigstens noch ein Seufzer wie: „Ich weiß schon nicht mehr, was ich zu all dem noch sagen soll.“ (Na, dann halt doch dein Maul, Herzchen!)
Hilfskräfte des Boulevards
Ja, danke! Ich hab es gehört. Ich hab es verstanden. Und übrigens: als versierter Bürger weiß ich, wie man taugliche Quellen findet, Nachrichten bewertet, aus Informationen Wissen herleitet. Ich bin weder auf das Gezänk, noch auf das Geplärre angewiesen, das an vielen Stellen doch bloß bemäntelt und kaschiert, daß man… womöglich zu denken aufgehört hat.
Ihr Hilfskräfte des Boulevards, die Ihr beim Aufreißen und beim Pflastern dieser ausgetretenen Pfade helft, schwitzend, stöhnend, von Angst und Aufregung bewegt, sich in dieser Marktschreierei des Unglücks erschöpfend: das hilft mir nicht! Das brauch ich nicht! Das macht die Welt nicht besser!
Damit wir nicht hinter Immanuel Kant zurückfallen, hinter diese anregende Idee, man könne sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer Leute bedienen, um aus selbstverschuldeter Unmündigkeit herauszukommen, brauche ich Denkräume, brauche ich ein geistiges Leben von Relevanz, brauche ich als Gegenüber feinsinnige Menschen, mit denen ich mich verständigen kann.
Ich brauch kein Belehrung über Faschismus, noch dazu von Leuten, die dieses Wort als hohle Phrase vor sich hertragen, denn ich bin die Brut von Faschisten, bin ein Insider, hab eine sehr klare Auffassung, wovon Gewalttätigkeit handelt.
Ich brauche auch keine Klugscheißer, die so tun, als könnten sie mir eine relevante Exegese der derzeit laufenden wissenschaftlichen Diskurse über Covid-19 liefern. Diese „Volkswissenschafter“ sind mir genauso suspekt wie „Volksreporter“, die nicht recherchieren können, die aber meinen, daß Meinung prinzipiell publiziert werden sollte.
Ich brauche die Praxis der anderen Optionen, die konkrete Erfahrung eines gelingenden Lebens, das ohne Gewalttätigkeit auskommt. Ich brauche Menschen um mich, die Worte für das haben, was in ihnen vorgeht, die mit sich selbst und mit anderen kommunizieren wollen, ohne Andersdenkende in die Tonne zu treten.
Wie das gehen soll, wenn man sich Tag für Tag mit dem Unglück der Welt besäuft? Das geht gar nicht. Diese Betroffenheitsgymnastik ist so gut wie Zeit totschlagen. Ein Boulevardgeschäft, das sich als Bewußtsein verkleidet.
Ich meine, wir sollten befähigt sein, eine nächste Kulturpolitik zu entwerfen, ohne mit abgestandenem Zeug im Kreis zu fahren und ohne ein nebulöses Karaoke zum Zustand der Welt abzusingen.