Howl: Jahr 18, drei

Prozeßhafte Arbeit

Ich konnte nicht vorhersehen, daß innerhalb der 20 Jahre, die ich mir für „The Long Distance Howl“ vorgenommen hatte, ein so weitreichender Umbruch in Bewegung kommen würde. Ich hab gerade 12 Wochen Lockdown durchlaufen, was bedeutet, die meisten Tage dieser Zeitspanne hatten etwas von Knast mit Ausgang.

Mir gefällt diese Metapher, obwohl sie – zugegeben – doch überzogen ist. Die Selbstbestimmung macht den Unterschied zum Knast. Meine Tür hat auch innen einen Türgriff. Ich hab den Schlüssel zu meiner Tür in meiner Hand. Ich verfüge über Nähe und Distanz zu anderen Menschen.

Was ist eine Krise?
Der Lockdown hat den laufenden Kulturbetrieb gekippt und so konnte ich mein ursprünglich konzipiertes Arbeitsjahr 2020 in die Tonne treten, einer ohnehin schon fragile Finanzplanung in den Wind schreiben. Aller Vorbereitungen und getroffenen Vereinbarungen waren überwiegend entwertet. Wie kurios, daß genau diese Art von Krise (Arbeitsplanung und Budgets im Eimer) schon einmal 2010 und 2015 stattfand, nun 2020. So eine Regelmäßigkeit geht mir auf die Nerven, weil sie zu Deutungen verleitet, die vermutlich nichts taugen.

So viel darf ich aber als gegeben annehmen. Nach 2008 (Lehman Brothers etc.) waren Kräftespiele in Gang gekommen, unter denen sich die Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs permanent verändert haben. Das wurde zum Teil einer weit größeren, vor allem weltweiten Strukturveränderung mit inhaltlichen Konsequenzen – oder Ursachen. Ich denke, wir Kulturleute sollten das verstehen, um die Lösung der aktuellen Probleme besser zu entwickeln.

Ich habe in meinem Online-Logbuch eben notiert: „Die Krisis ist übrigens nicht die Katastrophe, sondern ein markanter Höhepunkt in einem kritischen Prozeß. Demnach sollten wir dafür sorgen können, daß wir die Pandemie als eine Krise gestalten und uns nicht in eine Katastrophe stürzen lassen.“ [Quelle]

Ein kritischer Prozeß. Damit erhielt „The Long Distance Howl“ mittlerweile eine ganz eigentümliche Betonung; zumal mein erwähntes Logbuch (wie auch dieses Projekt) im Jahr 2003 begann. Nun also über 2.800 beschriebene Blätter im Web; zuzüglich zahlreicher Querverbindungen. Damit meine ich, die Projektjahre sind gründlich dokumentiert.

Derzeit liegen noch zweieinhalb Jahre vor mir, um dem „Howl“ einen passenden Schlußpunkt zu entwerfen. Was ich zum Auftakt damals nicht bedacht hatte: dann werde ich die Mitte 60 überschritten haben, was bedeutet, meine verbleibende Lebenszeit ist zwar noch unbestimmt, aber überschaubar.

Zentrum/Provinz
„The Long Distance Howl“ war aus der unmittelbaren Vorgeschichte heraus – über Die Verschwörung der Poeten – als kollektive Wissens- und Kulturbesitz konzipiert. Die sollte mit Kunstpraxis verwoben sein. Allerdings ist Kunst kein Mittel „um zu“, sondern bleibt ihren eigenen Aufgaben verpflichtet.

Das war von Beginn an ein wesentlicher Aspekt des Projektes: die Kunst dient keinen anderen Zwecken als ihren eigenen, ist daher Teil eines Bündels verschiedener Genres und Modi. Das hatte auch seine Impulse aus gemeinwesenorientierter Arbeit und aus Überlegungen zu einer eigenständigen Regionalentwicklung.

Was den Aspekt der „Long Distance“ angeht, der Ferne, auch der Reichweite (Range), war klar: die neue Mediensituation verändert das junge Phänomen einer neuen individuellen Mobilität und kippt so das alte Denkschema von Zentrum/Provinz. Mit dem jungen Phänomen einer neuen individueller Mobilität ist die umfassende Volksmotorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint.

In den 1970ern ereignete sich dann das, was ich gemeinsam mit dem Kulturwissenschafter Matthias Marschik als Der kurze Sommer des Automobils beschrieben hab. Es ereignete sich zu der Zeit aber auch die Digitale Revolution, die wir heute als Dritte Industrielle Revolution deuten, während nun genau im Zeitfenster von „The Long Distance Howl“ die Vierte Industrielle Revolution manifest wurde und unseren Alltag erreicht hat.

Unter solchen Bedingungen konnte ich in der Provinz, also abseits des Landeszentrums, ein kulturelles Vorhaben entwickeln, erproben, das sich genau nicht als eine „Urbanisierung der Provinz“ einlöst, indem es Modi der bürgerlichen Repräsentationskultur aus dem Zentrum kopiert.

— [Stadt-Land] —

Post Scriptum
Siehe zum aktuellen Zwischenstand auch: Der 8. Juni, vor 100 Jahren“ (Wie nun einiges zusammenkam)

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
Dieser Beitrag wurde unter Kulturpolitik abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.