Die neue Bourgeoisie
Krise, das ist der Prozeß einer Veränderung. Da tun sich wesentlich zwei Optionen auf: Katastrophe oder Katharsis. Die Krise ist daher nicht das Problem, sondern das Angebot. Wer nun meint, ich betreibe Wortklauberei, unterschätzt die Tatsache, daß Realität erst dadurch entsteht, daß wir Vorgänge deuten und benennen, beschreiben.
Das heißt, Realität ist eine menschliche Konstruktion durch Deutung und Beschreibung. Darum hat – unter anderem – Propaganda eine so zentrale Funktion in menschlicher Gemeinschaft. Unter uns Leuten der Wissens- und Kulturarbeit gilt in weiten Bereichen ein Konsens, daß wir uns der Propaganda zu enthalten, auch verweigern. Das ist freilich bloß ein Mythos.
Den Blick auf die Welt freilegen
Ich hab in meinem Projekt „Wegmarken“ kürzlich den Gleisdorfer „Solarbaum“ eingetragen, ein Werk von Hartmut Skerbisch (†). Dabei war Skerbisch mit seiner Auffassung einer „Advanced Sculpture“ zu zitieren, von der er meinte, sie konfrontiere so direkt wie möglich mit der Materialität der Welt und „verschleiert sie nicht, wie im Gebiet der schönen Künste, durch außermaterielle Inhalte.“
Daraus folgerte Skerbisch: „So wie erstens die menschliche Sprache macht jedes weitere Medium die Welt kommunizierbar. Aber genau dieser Umstand ist es, der die Welt zugleich auch verdeckt.“ Das ist ein sehr wesentlicher Gedanke, denn: „Das Kunstwerk legt den Blick auf die Welt wieder frei. Leistet es das nicht, ist es irrelevant und es handelt sich um irgendetwas anderes.“ [Quelle]
Ich zitiere Skerbisch hier, weil er ein wichtiges Beispiel für den Repräsentanten von Gegenwartskunst bot, der überprüfte, was er tat, sich selbst und anderen darüber Rechenschaft gab; in Resonanz mit der Auffassung von Markus Lüpertz, künstlerische Arbeit sei ein Ringen um Qualität und Vollendung.
Das sind Orientierungspunkte, die sich teils auch nützlich auf andere Lebensbereich übertragen ließen, aber wir schaffen es derzeit nicht einmal im regionalen Kulturgeschehen. Ich hab kürzlich schon behauptet, meine Generation habe eine Art neuer Bourgeoisie hervorgebracht, die über Kunst in Kategorien der Gründerzeit denke und spreche. Siehe dazu: „Abgang Lunacek“!
Eine neue Bourgeoisie
Hinter dieser Bourgeoisie tummelt sich ein Völkchen dilettierender Kreativer, denen Gegenwartskunst weitgehend egal ist, die aber gerne das Banner der Kunst schwenken. (Eine Distinktionsfrage.) Mit ist erst jetzt, in der Krise, anschaulich und klar geworden, wie das alles zusammenhängt. Natürlich geht es stets um Rang und Budget, um den Zugriff auf materielle und immaterielle Ressourcen.
Ich hab den merkwürdigen Dreisprung (2010, 2015, 2020) hier schon beschrieben. In dieser Dekade wurde im Oststeirischen der kulturpolitische Diskurs abgeschafft. Das damals noch gerne herausgehängte Thema „Vernetzung“ ist völlig erledigt.
Von der Konferenz der Provinz (März 1997) zum Kulturpakt Gleisdorf (Februar 2013) verläuft eine kuriose Entwicklung der verebbenden Grundlagenarbeit und Debatten. Dieser Prozeß hatte ein spezielles Gleisdorfer Datum, den 6. März 2007. Da fand ein Arbeitstreffen statt, dem eine ganze Serie solcher Meetings quer durch die Region folgte: [Link]
Das führte zu meiner Konzeption des „Kulturpakt Gleisdorf“; siehe: „Der Begriff hat inzwischen zwei Bedeutungen, die nun auch nach außen zur Wirkung kommen.“ [Quelle]
Dieser Modus hatte folgende Gewichtung: „Das heißt, wir haben eine Organisations- und Verfahrensweise Kunst- und Kulturschaffender erreicht, die auf Eigenverantwortung und Kooperation gesetzt ist.“ [Quelle]
Ausbruch des Schweigens
Genau diesen Modus hat die Kommune im März 2015 abgeschafft. Eines der Beispiele, wie sich kulturpolitische Konzeptionen ändern. Wo stehen wir fünf Jahre danach? Der Lockdown in der Corona-Pandemie hat viel Unruhe erzeugt und Kunst- wie Kulturschaffende unter Druck gebracht.
Was immer nun an Slogans ausgesandt und an Kampagnen gestartet wurde, in der Oststeiermark läßt sich feststellen:
+) Die Kulturreferate der Städte schweigen.
+) Regionale Kulturiniativen schweigen.
+) Ich konnte keine einzige Stimme Kunstschaffender der Region entdecken, die ein relevantes Statement zur kulturpolitischen Lage abgegeben hätte.
Fragen wir also in diesem Bereich nach Selbstbestimmung und nach Themenführerschaft, die sich auf entsprechende Kompetenzen stützt, stehe ich vor einem Mirakel. Ich hatte über die Jahre öfter behauptet: Wenn wir nicht selbst sagen, was Kunst sei, werden es Wirtshaft und Politik für uns gerne übernehmen. Voilà!
+) Zu den verstummten Kulturreferaten siehe: „Kulturpolitik nach dem Lockdown“!
+) Zu den verstummten Kulturiniativen siehe: „Das Schweigen regionaler Kulturinitiativen“!
Und wozu diese Erörterung? Weil ich deutlich machen möchte, daß wir aktuell offenbar von vorne beginnen müssen, kulturpolitische Agenda zu klären; vor allem für die Provinz, also für ein geistiges Leben abseits des Landeszentrums. Ohne solche Klärungen hat kein Protestruf ein taugliches Fundament.
— [Stadt-Land] —