„Also zum Mitschreiben: wir sind gerade uns selbst überlassen.“
(Martin Krusche am 12.5.2020 zur Kulturpolitik)
Intro
Wir haben während der letzten 30 Jahre zugelassen, daß praktisch alle unserer Lebensbereiche durchökonomisiert wurden; bis hin zu unseren Beziehungen. Das drückt sich in vielen unserer Sprachregelungen deutlich aus. Wir haben diese Entwicklung zugelassen, nachdem meine Generation auf besondere Weise aufgewachsen ist. Damit meine ich die 1950er- und 1960er-Jahrgänge. Wir wurden zur überhaupt ersten Generation in der Menschheitsgeschichte, die in weiten Teilen Europas ein Ausmaß an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand genießen durften, das es davor nie gegeben hat.
Es ging nicht allen so, aber uns in Österreich auf jeden Fall. Der Untergang Jugoslawiens machte dann deutlich, wie fragil diese Schätze sind; zum Beispiel nicht hungern zu müssen und nachts nicht von einem Rollkommando aus der Welt geschafft zu werden, weil man seine Ansichten in öffentlichen Diskursen vertreten hatte.
Systemrelevanz
Die Pandemie mit dem Lockdown und seinen umfassenden Konsequenzen haben umgehend zu merkwürdigen Schieflagen geführt, welche gesellschaftlichen Bereiche durch staatliche Hilfe ein wenig Stabilisierung erhoffen durften und welche Bereiche erst einmal einbrechen konnten.
Das führte in meinem Metier zu teilweise beunruhigenden, auch skurrilen Reaktionen. Dem gegenüber sah ich bisher eine weitgehend ratlose Politik, falls ich nicht annehmen muß, daß quer durch alle vertrauten politischen Spektren eine Art teilweiser „Flurbereinigung“ im Kulturbereich durchaus wohlwollend betrachtet wird. (Ich meine tatsächlich, dies sei auch Teil des momentanen Geschehens. Das werde ich in dieser Leiste noch detaillierter begründen.)
Als Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek (Grüne) am 15.05.2020 ihren Rücktritt bekanntgab, empfand ich das als ihren ersten kulturpolitischen Akt von Relevanz. Ich werde diesen Vorwurf hier noch präzisieren.
Was mich aber massive getroffen hat, waren zwei Slogans, die zweifellos aus meinem eigenen Metier kommen. a) „Ohne Kunst wird’s still“ und b) „Kunst ist auch systemrelevant“. Seit Menschengedenken hat Kunst noch nie geschwiegen, egal, in welchem Zustand sich die Welt jeweils befand. Nicht einmal angesichts durchgeladener Gewehre schwieg die Kunst. Aber jetzt?
Für die Kunst zu argumentieren, indem man Systemrelevanz geltend macht, offenbart das weitreichende Versagen einschlägiger öffentlicher Diskurse. Allein die Verknüpfung der Kategorien Kunst und Systemrelevanz illustriert die erwähnte Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Es fiele mir selbst in größter Not nicht ein, auf solche Art über meinen Beruf und seinen Hauptgegenstand zu reden.
Interlude
Franz Ablinger, mit dem ich derlei Fragen gelegentlich erörtere, lieferte mir den Klassiker aus Alltagsgesprächen, der illustriert, worin nicht nur meine Berufsgruppe schwächelt, sondern Bildungs- und Kulturpolitik der Zweiten Republik inzwischen sogar noch abgesackt sind, denn da waren unsere Leute schon weiter. Ablinger deponierte auf Facebook folgenden Dialogteil:
„Ach so, du bist auch so ein Tachinierer, der nix arbeiten will… Ich hätte geglaubt, du arbeitest was. Ja, ich würde mich auch gern in die soziale Hängematte legen, aber ich hab‘ ja zum Glück was gelernt.“
Dieser Ausdruck von Unwissenheit, Ignoranz und Abschätzigkeit gegenüber einem der ältesten Berufsfelder der Menschheit ist aufschlußreich. Diese Haltung bündelt den Arbeitsethos des von der Gegenreformation schäbig geprägten Österreichs („Wer sich nicht schindet, gilt nichts!“) mit Anforderungen der frühen Dampfmaschinen-Moderne (19. Jahrhundert) und mit der Intellektuellenfeindlichkeit der Nazi-Kanaillen. So denken und argumentieren Untertanen, die sich bei ihren Fürsten einschmeicheln möchten.
Conditio humana
Die Systemrelevanz der Kunst ist der feuchte Traum von Verwaltungskräften, die nichts riskieren wollen und daher die Bedingungen für alles, worin sie der Zivilgesellschaft entgegenkommen, immer höher schrauben.
Kunst ist nicht „systemrelevant“, sondern Teil der Conditio humana. Die ist nicht relevant, sondern konstituierend. Alles System, dessen Relevanz erklärt werden möchte, kommt überhaupt erst später ins Spiel. Was unsere Kultur ausmacht, die eine Seßhaftwerdung der Menschen hervorbrachte, folglich die Entwicklung von Städten, das Werden von Reichen und deren Verwandlung in Staaten, hat einen zentralen Angelpunkt: symbolisches Denken.
Das ist die Fähigkeit des Menschen, Dinge zu denken, die es nicht gibt. Abstraktion. Theoriebildung. Vorausschau. Planung. All das gibt es nicht ohne symbolisches Denken. Historisch kamen dabei verschiedene Bedürfnisse zum Ausdruck. Wahrnehmungserfahrungen, also ästhetische Erfahrungen. Erkenntnisgewinn. (Erkenntnis soll sich erweisen, nicht bezahlt machen!) Theoriebildung. (Wenn wir mit der Realität kollidieren, brauchen wir Theorie.)
Autonomie der Kunst
Ich sehe mich mit einem Bildungsbürgertum konfrontiert, das in weiten Teilen die Bildung aufgegeben hat und über solche Zusammenhänge nichts weiß. Zitate kommen nicht mehr aus Texten, die man gelesen hat, sondern aus zirkulierenden Memes und Zitatensammlungen.
Eine fundierte Kenntnis dessen, wo die Diskurse aus den letzten 200 Jahren zu verschiedenen Themen stehen, weicht den Privatmythologien und „gefühlten Wahrheiten“. Auf Quellenlagen wird gepfiffen, Hauptsache der rausgehauene Satz schmückt und erzeugt ein gutes Gefühl. Ich hab inzwischen auch genug künstlerisch tätige Leute getroffen, die all dem gegenüber völlig bewußtlos sind und ihr Schaffen nur den eigenen Befindlichkeiten widmen.
Kein gutes Klima für das Prinzip der Autonomie der Kunst, welches besagt, die Kunst gebe sich selbst ihre Regeln, sie sei keinen anderen Anforderungen verpflichtet als ihren eigenen. Das bedeutet ja auch, hier hat unser symbolisches Denken einen Ereignisraum, der keiner Alltagsanforderung, keiner sozialen Aufgabe, keinen anderen Zwecken verpflichtet ist. Das ist unabdingbar für die Entwicklung der Kunst und unseres geistigen Lebens.
Das älteste plausibel datierte Artefakt in diesem Sinn, quasi einer Kunstpraxis zugerechnet und nicht der Alltagsbewältigung, ist über 70.000 Jahre alt. Siebtzigtausend! Jahre! Das wäre genug Zeit gewesen, damit die Evolution, wie sie ja ohne bestimmte Pläne wirkt, solche menschliche Eigenschaft liquidiert oder die Spezies selbst abschafft.
Die Evolution hat uns aber – im Gegenteil – ermöglicht, das symbolische Denken zu verfeinern, zu vertiefen, hat damit die Bedeutung dieser Eigenschaft betont, statt sie zu eliminieren. Nun ist die Kunst prinzipiell jenes Feld, das nur diesem Aspekt gewidmet und keiner anderen Funktion verpflichtet ist. Wer das negiert, dürfte schlechte Argumente, vermutlich auch keine Ahnung haben.
Kulturpolitik
Es ist ein grimmiger Witz, daß ich in weiten Bereichen mit einem Bildungsbürgertum zu tun hab, dem diese grundlegenden Inhalte als Teil einer Allgemeinbildung fremd geworden sind. Ich hab es ferner mit politischem Personal zu tun, das Kulturpolitik und Kulturmanagement kategorial nicht zu unterscheiden weiß, verwechselt oder bewußt vertauscht.
Das führt zu Allianzen mit Kräften der Verwaltung, die Kulturbudgets kapern, um damit PR-Arbeit zu machen. Dazu kommen dann Legionen dilettantische Kräfte, die ihr eigenes kreatives Gestalten, gegen das nichts zu sagen wäre, unter die Flagge der Kunst reklamieren, was wiederum die Produzenten von Garten-Deko anregt, sich das eine oder andere Kulturbudget zu holen etc.
Das rundet sich, indem so manche Künstlerinnen und Künstler aus meiner Umgebung eine Art soziokulturellen Kameradschaftsbund formieren, in dem dann diese Fahne hochgehalten wird, auf der steht: „Kunst ist auch systemrelevant!“ Solche Konfusion hat nun nicht bloß die vormalige Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek demonstriert, deren Abschiedsrede etliche Floskeln enthält, die ein sicherer Hinweis darauf sind, daß hier jemand über Kunst und Kultur redet, ohne besonders viel Ahnung davon zu haben. Da kommen dann laufend ähnliche Klischeesätze aus annähernd allen Lagern.
Ebenso sensationell die Grüne Politikerin Susanne Jerusalem, deren inzwischen gelöschtes Posting dokumentiert wurde. Sie verwechselt ebenfalls Kulturpolitik mit Kulturmanagement, stellt eine Rechnung an (Ökonomisierung) und demonstriert, daß ihr nicht ganz klar ist, weshalb eine Gesellschaft in ihr geistiges Leben investieren sollte. Das lohnt sich gewöhnlich nicht in harter Währung, sondern in Zukunftsfähigkeit.
Wir müssen offenbar erneut über den Wert immaterieller Güter reden. Fürs Erste könnte es allerdings genügen, wenn da und dort ein paar Zeilen Bourdieu gelesen würden. Wie oben erwähnt: Erkenntnis soll sich erweisen, nicht bezahlt machen. Wir werden also über eine nächste Kulturpolitik zu verhandeln haben.
Die jetzige scheint mir auf merkwürdige Art irreparabel. Wie hier schon gesagt, meine Vorhaltungen gegenüber Frau Lunacek als Kulturpolitikerin werde ich noch detailliert begründen; anhand markanter Zitate aus ihrer Rücktrittsrede. (Frau Lunacek als solche beschäftigt mich nicht, die mag tun und denken, was ihr beliebt, daran habe ich nichts auszusetzen.)
Vertrauensfrage
Ich hätte ja gerne darauf vertraut, daß sich in diesen Dingen bloß einige Mißverständnisse eingeschlichen hätten und daß Frau Lunacek einfach großes Pech hatte, in den Wirren der losbrechenden Pandemie mit vielen guten Ideen steckengeblieben zu sein.
Doch diese Vertrauensfrage geht negativ aus. Ich werde im zweiten Teil dieses Textes jene Lunacek-Zitate vorlegen, die ich für entblößend und aufschlußreich halte. Ich werde das natürlich jeweils begründen.
Hier aber nun noch zwei Beispiele, die ich als Hinweis werte, daß im Umfeld von Frau Lunacek offenkundig bestenfalls mit den Sichtweisen einer veralteten Bourgeoisie gedacht und gehandelt wurde. Es ist erst wenige Jahre her, da mußte ich ausgestellte Rechnungen korrigieren, weil ich verschlampt hatte, daß die Umsatzsteuer für künstlerische Arbeiten von zehn auf dreizehn Prozent erhöht worden war.
Die Regierung hatte also uns Kunstschaffenden eine zusätzliche Belastung geschaffen, die wir in den allermeisten Fällen nicht an „Endkunden“ weitergeben konnten, weil dort in der gleichen Zeit keine Budgeterhöhungen stattfanden. Faktisch hatte man uns also die Einkünfte gekürzt.
In der Corona-Krise wurde nun erstens die Steuer für alkoholfreie Getränke von 20 auf 10 Prozent gesenkt. Zweitens wurde die zum 1. März 2014 erneut eingeführte Schaumweinsteuer abgeschafft. Norbert Rief titelte am 30.04.2019 im Ressort Innenpolitik der Presse. „Aus für die Sektsteuer“.
Ich kennen keinen Hinweis, daß sich Lunacek bemüht hätte, die Besteuerung unserer Arbeit von den jungen 13 Prozent wieder auf die älteren 10 Prozent zu bringen, obwohl vergleichbare Schritte machbar waren, wie der Getränkesektor beweist. Das hat für sich schon einige Ironie.
All dem lieferte Politikerin Susanne Jerusalem die passende Begleitmusik mit folgendem Posting, das ich erst für Satire hielt, das aber in verschiedenen Quellen dokumentiert ist: „Ich würde gerne Geld in Kunst, Kultur und Bildung fließen lassen. Der Beweis dafür, dass es den ÖsterreicherInnen dadurch in Zukunft besser ginge als heute, müsste aber erst erbracht werden.“
Dieses zynische Statement illustriert die sachlich völlig besinnungslose Verwechslung von Kulturpolitik und Kuturmanagement, betont die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, läßt erahnen: so mag ein Bourgeois zur Gründerzeit (19. Jahrhundert) gedacht haben, wenn er überlegte, wie er seinen wirtschaftlichen Aufstieg mit klassenspezifischem Sozialprestige untermauern könnte, um sich höhergestellten Kreisen anzubiedern und von subalternen Schichten abzugrenzen. Aus dem Jiddischen kenne ich für solches Verhalten überdies den Begriff Schmock.
— [Fortsetzung] —
+) Ein Feuilleton (Kulturpolitik auf Kunst Ost)
+) Konferenz in Permanenz (Kulturpolitik im Austria-Forum)
+) The Long Distance Howl (Das Projekt auf 20 Jahre)