Selbstverständlich hören wir von Fachkräften divergierende Ansichten, auch einander widersprechende Meinungen. Erstens garantiert das unsere Demokratie. Antwortvielfalt bleibt unverzichtbar.
Zweitens ist dieses Covid-19 neu und die Menschheit macht erst seit ganz kurzer Zeit damit Erfahrungen. Naturgemäß kann in dieser Situation eine Expertenmeinung von gestern heute schon überholt sein und muß durch eine andere ersetzt werden. So ist das Wesen des Erfahrungsammeln. Nur Deppen und Diktatoren könnten das verdächtig finden.
Eine Pandemie hat nichts Lineares. Sie könnte (Möglichkeitsform!) unter gewissen Bedingungen unsere Lebensumstände in eine Katastrophe kippen. Daher bin ich gerne bereit, jetzt noch eine Zeitlang vorsichtiger zu sein, als eventuell zwingend notwendig ist.
Im Rückblick werden wir dann sagen können, was dabei vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre. (Sie wissen es heute schon besser? Gratuliere!) Das, dieses Übermaß an Notwendigem, soll dann als meine Spende an das Schicksal gelten. Im Augenblick, also gegen Ende der dritten Lockdown-Woche, bin ich vor allem einmal froh, daß man individuell sehr viel tun kann, um sich und andere zu schützen.
Das gilt zumindest für einen wie mich, der zum Beispiel nicht mit Kranken oder gar Corona-Infizierten arbeiten muß. Allein um all diesem Personal nicht in den Rücken zu fallen, bin ich lieber langsamer, vorsichtiger, nehme auch Einbußen in Kauf. Es ist doch ganz einfach. Wer jetzt rücksichtslos handelt, fördert eine Gefahr, die auch ihn selbst treffen kann. Wie klug muß man denn sein, um das zu kapieren.
Was aber die Pandemie und ihre Konsequenzen angeht, haben wir es mit einem extrem komplexen System zu tun. Damit befinden wir uns derzeit noch in einer Phase wie auf der Autobahn bei wechselhaftem Nebel und beeinträchtigter Sicht. Natürlich könnte es gut gehen, wenn da einer mit 190 Sachen über die Piste glüht. (Möglichkeitsform!) Mir wäre es dennoch lieber, wenn vorerst alle runterschalten.
Und die Experten? Mir fallen derzeit einzelne Konsorten auf, die vermutlich seriöse Leute sind, aber wo sie ins Licht der Öffentlichkeit treten, schnattern sie stellenweise wie Neofaschisten. Weshalb? Um sich selbst zu erhöhen? Um eine Demokratie düster zu reden, auf daß man selbst wie eine Lichtgestalt erscheinen möge?
Bedaure! Das sind Basisübungen des Faschismus. Ich beschränke mich auf zwei konkrete Beispiele. Biologe und Autor Clemens G. Arvay leitet ein Statement auf Youtube so ein: „In Österreich ist es verdammt schwer geworden, eine Meinung zu äußern, die nur geringfügig von der verordneten Meinung abweicht. Aber ich möchte es trotzdem tun.“
Ach ja! Wo und wie ist das schwer geworden? Was droht einem denn, außer schlimmstenfalls einige Widerworte? Was wurde denn an Meinung „verordnet“? Von wem? Kommt nachts ein Rollkommando, um einen verschwinden zu lassen, falls man jemandem widerspricht? Nichts, gar nichts passiert, wenn man seine Meinung äußert. (Solche Selbstergriffenheit, solche Wichtigtuerei finde ich entsetzlich!)
Ähnlich larmoyant und in Fragen der Demokratie offenbar derzeit mit getrübten Sinnen gibt sich Prof DDr Martin Haditsch, Facharzt Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie. Soll mich diese Titel-Latte beeindrucken? Professor und Doppeldoktor, also jemand, der einige Präzision im Denken gelernt haben sollte.
Haditsch orakelt auf Youtube: „Meine Lieben! Nach langer Bedenkzeit wende ich mich an die verbliebenen Vernunftbegabten. Und ich möchte mir trotz möglicher Anfeindungen, Shitstorms oder Stigmatisierung das Recht nicht nehmen lassen, Kommentare von Journalisten, sogenannten Experten, sowie Entscheidungen politischer Verantwortlicher kritisch zu hinterfragen.“
Wer will ihm denn irgend ein Recht nehmen? Wie sollte das gehen? Publiziert er seine Ansichten nicht gerade in einem Massenmedium? Hoffen wir, er ist in seinem Fach gut, Zeitgeschichte scheint ihm dagegen Blunzn zu sein. Wir kennen diesen Groove aus den 1930ern. „Nach langer Bedenkzeit“ stellt er sich also der Welt. Er wirft sich wohlüberlegt in das Rad der Geschichte, zeigt Mumm, Zivilcourage, und zwar „trotz möglicher Anfeindungen“.
Haditsch wendet sich daher „an die verbliebenen Vernunftbegabten“, um mit ihnen eine höhere Wahrheit (Weisheit?) zu teilen. Der Rest der Mischpoche: lauter Idioten, Kriminelle oder Vernunftflüchtlinge. („Ich stehe im Lager der Klarheit und Wahrheit! Alles anderen Deppen, außer Mutti!“)
Wir durften schon vor Jahrzehnten von Michel Foucault lernen, was von solchen Attitüden zu halten ist („Überwachen und Strafen“). Diese Intrada würde zu einem Tyrannen passen, ist aber völlig ungeeignet, einen seriösen Wissenschafter zu zertifizieren.
Nun möchte ich annehmen, Haditsch hat als Virologe eine tadellose Reputation. Weshalb dann dieses präfaschistische Geschwurbel zum Auftakt? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, wie es klingt, wenn ein selbstbewußter Wissenschafter spricht.
Michael Narodoslawsky (Institut für Prozess- und Partikeltechnik, TU Graz) sagte bei unserer Session „Leben: Die Praxis der Zuversicht“ zur Frage „Was ich als Wissenschaft sehe“: „Wissenschaft hat nichts mit Wahrheit zu tun. Das, was wir in der Wissenschaft tun, ist eigentlich, daß wir versuchen, das, was die Leute vor uns gefunden haben, zu widerlegen.“
Narodoslawsky betonte, Wissenschaft sei eine Auseinandersetzungsform nach „ganz bestimmten Regeln mit der Realität“. Und das wurde schon in der Antike so gesehen, wenn es hieß: Erkenntnis soll sich erweisen, nicht bezahlt machen.
Was dann einige Zeit als unbestritten gilt, schafft Grundlagen für unsere Handlungspläne. Wir müssen also im Gespräch bleiben und unsere Übereinkünfte entlang neuer Erfahrungen entsprechend ändern.