Was für eine merkwürdige Begegnung auf dem Postamt. Ich kenne den Mann seit Jahrzehnten aus flüchtigen Begegnungen. Ein Lehrer meiner Generation. Wir haben noch nie eine Unterhaltung geführt, bloß Grußworte gewechselt. Das hat sich gestern geändert. Bei der Gelegenheit mußte ich erfahren, daß Ökologie das wichtigste Unterrichtsfach sei, wenn wir als Art überleben möchten. Davon würde alles andere abhängen.
„Das überzeugt mich nicht“, hatte ich zu erwidern, „schon prinzipiell, weil ich keinen monokausal angelegten Konzepten traue“. Also erfuhr ich, daß alles übrige nichtig sei, wenn wir diese Umwelt-Frage nicht umgehend anpacken würden und daß man auch persönlich Konsequenzen ziehen, sich umstellen müsse, nachdem man sich sachkundig gemacht habe.
Das seien wir vor allem unseren Kindern schuldig. „Du hast aber keine, hm?“ erwiderte ich. „Nein“, sagte er. „Ich aber. Und ich nehme das sehr ernst.“ Den Eindruck habe er nicht, meinte der Mann. Ich meinte „Es muß mir völlig frei stehen, welche Schwerpunktthemen ich in meinem Leben für vorrangig halte“. Dem widersprach er energisch. „Da setze ich auf die menschliche Gemeinschaft“, fuhr ich fort, „denn unsere Kultur erlaubt mir, daß ich nicht alle Erfahrungen selbst machen muß und daß viele Kompetenzen zur Wirkung kommen.“
Ich kürze ab, denn wir konnten uns nicht einigen. Ich wurde dann recht flott erstens als Zyniker und zweitens als Sebastian Kurz-Wähler identifiziert. Drei Sätze weiter galt ich schon als FPÖ-Wähler. Es wurde ein Lehrbeispiel von Selbstdefinition durch Feindmarkierung. Das unterlegte der Mann mit „Ich bin ja nur ein dummer Lehrer.“ (Solche Sätze kommentiere ich niemandem, gehe aber von der Mutmaßung aus: wer aufzeigt, wird es wohl gewesen sein.)
Nun sagt dieser Vorfall nichts über die Lehrerschaft aus, sondern über die grassierende Ratlosigkeit meiner Generation. Irgendwie muß es sich ja äußern, daß wir offenkundig versemmelt haben, was wir als überhaupt erste Generation in der gesamten Menschheitsgeschichte genießen durften: eine unübertrefflich hohe Dichte an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Das hatte es davor nie gegeben.
Unser Status quo mit seiner Menge auffallend unerfreulicher Details spottet diesem Phänomen. Ich gab dem Mann dazu noch einen Hinweis. „Seit tausend Jahren kennen wir das, wenn die Menschheit in Schwierigkeiten ist. Plötzlich ziehen Prediger durchs Land, die uns vom nahen Weltuntergang erzählen. Wir sollen ihnen zuhören, wir werden zur Umkehr und zur Buße aufgerufen, wir sollen für Läuterung sorgen. Ich traue solchen Leuten nicht.“
Schließlich ging seine Frau dazwischen und forderte uns auf, voneinander zu lassen. Ich hatte einen weiteren Grund, darüber zu staunen, daß einige der Konventionen, die ich längst für gesichert hielt, nichts mehr gelten. So das Prinzip der Antwortvielfalt. Auch der Verzicht darauf, anderen eigene Ansichten aufzudrängen. Die Praxis des Kontrastes als ein Schatz in menschlicher Gemeinschaft.
Eine weitere Erfahrung, daß manche Leute meines Milieus sich in der Reaktion auf den Lauf der Dinge persönliche Haltungen und Modi leisten, die ich von jenen aktueller Rechtspopulisten nicht mehr unterscheiden kann. Ich habe während vergangener Jahre in kulturpolitischen Debatten oft betont, mich würden vor allem jene Kulturschaffenden interessieren, die uns Beiträge zu einer stichhaltigen Beschreibung der Welt liefern. Auf der künstlerischen Seite heißt das für mich auch in den schwerer dechiffrierbaren Werken: wir erzählen einander die Welt.
In der Einleitung zu ihrem sehr anregenden Buch „Die psychotische Gesellschaft“ schrieb Ariadne von Schirach: „Diese Welt verschlägt mir den Atem. Man kommt gar nicht mehr hinterher mit dem Mitdenken und Mitfühlen, und doch beginnt jede Veränderung mit dem Annehmen und Beschreiben dessen, was ist.“