Spätestens seit dem Jahr 2015 hat das regionale Kulturgeschehen in meiner Gegend bei der Gegenwartskunst enorm an Boden verloren; besser gesagt: Terrain aufgegeben, denn das geschah nicht von selbst, einfach so. Es wurde herbeigeführt. Als Ausdruck einer Lobbybildung, in der vertiefte Befassung mit Kunst eher stört. Natürlich deute ich das im Zusammenhang und Wechselspiel mit einer gesamten gesellschaftspolitischen Entwicklung Europas, bei der Wissenserwerb an vielen Stellen durch Pose ersetzt wird.
Es hat sich allerhand kreatives Schaffen durchgesetzt. Erbauliches, therapeutisches Handeln unter Verwendung künstlerischer Techniken ist freilich keine Kunst, kann aber von Kunstfertigkeit bestimmt sein. Kann.
Kunstfertigkeit meint handwerkliches Können. Gegenwartskunst ist etwas völlig anderes. Deshalb erweist sich das Bonmot „Kunst kommt von Können“ als pure Geschwätzigkeit. Was das Werk zur Kunst macht, ist naturgemäß der Kontext. Kunst kommt von der Bedeutung, die wir Werken zuschreiben. Dabei ist handwerkliche Stümperei in den meisten Fällen störend, aber das muß nicht auf jeden Fall zutreffen.
In genau solchen Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten, komplexen Anordnungen wird die Gegenwartskunst vielen Menschen zum Ärgernis. Sie wollen Eindeutigkeit. „Kannst du jetzt sagen, was Kunst ist?“ Ich kann sofort, kann kurz und bündig sagen, was ein Tisch ist und wodurch er sich vom Kleiderschrank unterscheidet.
Die Kunst ist überhaupt nicht angelegt, in solcher Kürze und Eindeutigkeit bestimmt, erläutert zu werden. Die Kunst bietet uns Anlässe, über solche Bereiche der Alltagsbewältigung hinauszugehen, sehr viel tiefer auszuloten, was wir unter Conditio humana und menschlichen Möglichkeiten verstehen dürfen. (Wir sind die einzige Spezies, die symbolisches Denken entwickelt hat.)
Das macht die Kunst übrigens seit jeher, seit einigen zehntausend Jahren. Die frühesten Spuren, die ältesten Artefakte, von denen wir wissen, belegen schon, daß sich hier ein Bereich auftut, der weder eindeutig, noch praktisch, noch ruckzuck erklärbar ist.
Sehe ich mir die ältesten Höhlenmalereien an, die ältesten Tempelanlagen, von denen man uns berichten konnte, steht für mich außer Frage, daß sich hier Menschen spezialisieren mußten. Nicht jeder hat Geschick, also ausreichende Handfertigkeit, und geistige wie emotionale Grundlagen, um solche Werke zu schaffen.
Wir können keinesfalls wissen, was die Menschen damals bewegt hat. Es gibt keine Quellen, die offenbaren, was jene gedacht haben, die sich solche Fertigkeiten erwarben, was dem gegenüber andere dachten, die das nicht konnten. Aber die erhaltenen Werke dokumentieren spirituelle und kulturelle Bedürfnisse der Menschen.
Die dürfen wir ungeteilt allen zuschreiben, mit denen wir in Gemeinschaft leben. Ich bin überzeugt, daß niemand davon ausgenommen ist: spirituelle und kulturelle Bedürfnisse. Unterschiede zeigen sich freilich in den Ausdrucksformen. Außerdem offenbart mir jedes mögliche Gespräch, welche Nuancen ein geistiges Leben bestimmen, in dem jemand Werke anfertigt, mit denen er oder sie an die Öffentlichkeit drängt.
Geistiges Leben findet selbstverständlich nicht bloß in sprachgestützter Intellektualität statt. Da wir in Worten, Bildern und Emotionen denken, ereignen und äußern sich diese Prozesse auch auf vielfältige, völlig unterschiedliche Art. Ich kenne auf Anhieb kein anderes Genre als die Kunst, wo diese Vielfalt innerhalb eines sozialen Systems alle diese Optionen gleichermaßen braucht und zuläßt.
Genau deshalb ist die Kunst von so zentraler Bedeutung für menschliche Gemeinschaft. Genau deshalb genügt es nicht, sich dabei auf kreatives Gestalten und auf Dekoration zu beschränken. Der eigentlich bedeutende Aspekte ist das geistige Leben mit seinen emotionalen Entsprechungen. Wer das als kulturpolitische Option ignoriert, trägt zur Produktion von Untertanen bei.
— [Dorf 4.0: Stadt-Land] —