Elektronische Lagerfeuer und feuernde Neuronen

Das Diwanisieren als eine Geste vergangener Zeiten und als ein Ereignis, welches von Bedürfnissen handelt, die wir nie abgelegt haben. Die Geselligkeit, das Gespräch, Nähe, Zuwendung… Skizziert im vorigen Beitrag: Die Suche nach der Mitte.

Das extreme Gegenteil davon kennen wir zum Beispiel als Effekt der sogenannten Hospitalisierung. Eine umfassende Deprivation, die sogar töten kann. Doch wir erleben derzeit eher den Overflow, das Gegenteil von Deprivation. Der Trubel im Gemeinwesen handelt überdies davon: Wenn eine Situation in Gemeinschaft so grundlegend wichtig ist, von so starken Bedürfnissen getragen wird, dann finden sich natürlich auch Leute, die das bewirtschaften.

Ich rede von realen sozialen Begegnungen als dem Hauptereignis und vielleicht als einem letzten Echo von Stammeskulturen, denn dahinter tut sich diese Abstraktion auf: Bürgerin, Bürger. Eine zur Staatsbildung nötige Abstraktion, weil derlei größere gesellschaftliche Gefüge darauf beruhen, daß ich mich einer Gemeinschaft zugehörig fühle, deren Mitglieder ich nicht mehr persönlich kenne.

Aber genau in diesem größeren Konzept von Zusammengehörigkeit schlägt dann wieder das Bedürfnis nach persönlicher Vertrautheit durch. In einem zurückliegenden Projekt machte mich der bulgarische Architekt Grigor Doytchinov mit dem Begriff Mahala vertraut. (Eine soziale Kategorie, die Joachim Vossen in seinem Buch „Bukarest. Die Entwicklung des Stadtraums.“ behandelt.)

Da ich den Begriff damals bei uns nirgends in Verwendung fand, begann ich mich umzuhören. Von der türkischen Künstlerin Deniz Gül erfuhr ich bezüglich ihrer Sprache: „Yes, there is mahalle. it is like mirjana told about the divan. I know it is also in India.“

Vom iranischen Künstler Amirali Ghasemi war zu erfahren, in seiner Muttersprache Farsi sei Mahala ein Wort für Nachbarschaft: „… the place that you can call neighbors/friends a HOME BOY: ‚ham-mahali’…“ Genauer gesagt: „Ham-mahali referes to person like a neighbor who lives in the same area.“

Eines der kuriosesten Beispiele für derlei Zusammenhänge habe ich in Serbien kennengelernt, wo Nachbarschaftsverhältnisse in einem Dorf dazu führten, daß mehrere Familien ihre Gräber auf dem Friedhof genau so angeordnet haben, wie die Häuser in ihrer Straße.

Ich mag diese Motive als historische Konzepte des Sozialen. Da wir Ende der 1950er Jahre eine Revolution der individuellen Mobilität erlebt haben, da sich inzwischen auch unsere Medienwelt radikal verändert hat und uns in eine völlige neue Infosphäre einhüllt, haben Gemeinschaftserlebnisse ganz andere Rahmenbedingungen erhalten.

Nicht zu vergessen das Elektronische Lagerfeuer, wie es während der 1960er in unseren Stuben entfacht wurde. Fernsehgeräte, um die sich Familien Tag für Tag scharten, nachdem diese erst vor allem in Wirtshausstuben aufgestellt waren und dort für neue Geselligkeitsarten sorgten. (Das kam dann jüngst als „Public Viewing“ bei Sportveranstaltungen wieder.)

Inzwischen gehöre ich selbst schon seit Jahren zu den Leuten, die ihr TV-Gerät weggeschmissen haben, weil ich mir meine Programme lieber selbst punktgenau zusammenstelle und vor allem eine Allergie gegen TV-Werbung habe. Aber das Gesellige am TV endete schon gravierend, als das Rundfunkmonopol fiel, unzählige Kanäle aufgingen und wir uns nicht mehr über die Sendungen des Vortages unterhalten konnten, weil die Auswahl zu groß war, als daß man noch auf gemeinsame Erfahrungen setzten konnte.

„Die Rückkehr ist vielleicht vergeblich, aber die Flucht ins Virtuelle auch“, meinte Wissenschafter Dirk Raith treffend zu diesen Aspekten. Derweil haben uns vor allem unsere Kinder neue Varianten von Gemeinschaftsorganisation gezeigt; durchsetzt von Aspekten, die ich (bisher) nicht aufzugreifen bereit bin.

So ist etwa WhatsApp ein Online-Dienst, der Menschen rund um die Uhr miteinander verzahnt und von dem ich mich beharrlich fernhalte, während mir etwa Emeritus Hermann Maurer sagt, daß er ohne diesen Dienst von wichtigen Informationsflüssen abgeschnitten sei.

Aber ich habe mich nun auch viele Jahre geweigert, mit meinem ersten Smartphone online zu gehen und nun, etliche Gerätegenerationen später, habe ich diese Demarkationslinie überschritten, diese Verweigerung aufgegeben. Wer weiß, wohin das führen wird…

Vielleicht werde ich im Alter rückständig. Vielleicht habe ich mir aber bloß jene Adaptionsphase für eine neue Technologie genommen, die uns solche technischen Prozesse heute eigentlich nicht mehr erlauben, was ich für höchst problematisch halte. (Wir leben seit rund 200 Jahren in einer permanenten technischen Revolution.)

Allerdings wurde ich inzwischen schon öfter ermahnt, ich solle das mit dem Altwerden nicht immer wieder erwähnen. Meine Standardfrage: Ich bin nun 63. Wann, wenn nicht jetzt, sollte ich mich denn offen mit dem Thema Altwerden befassen? Sie ahnen schon, das wird notorische weggewischt, außer jemand ist älter als ich. Dabei entzündet sich das Thema nicht bloß an Fragen des Umgangs mit neuen Technologien.

In meinem Mileu wird also sehr gründlich selektiert, welche Themen Relevanz haben und was davon dann auch in unseren realen sozialen Begegnung zur Debatte stehen darf. Ich nehme das übrigens als einen gewichtigen Hinweis auf die Brisanz und Unverzichtbarkeit von konkreten Orten, von analogen Räumen, an denen wir uns in leiblicher Anwesenheit begegnen.

Ich vermute, diese persönliche Anschauung, in der aneinander sichtbar wird, was Zeit und Veränderung ist, was diese Kräfte an uns bewirken, kann uns im Denken auf die Sprünge helfen. Die Telepräsenz leistet das offenkundig nicht. Von den elektronischen Lagerfeuer führen Brücken zu den feuernden Neuronen im konkreten Miteinander, tun sich Riffe und Klüfte auf…

— [Dorf 4.0: Stadt-Land] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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