Die Suche nach der Mitte

Sie können in der Stadt den Begriff der Dorfgemeinschaft nicht brauchen. (Vermutlich taugt er heute nicht einmal mehr für ein Dorf.) Die Kleinstadt ist für Stadtteilarbeit zu klein. Gleisdorf hat eher Milieus, die man zwar teilweise über Wohnadressen darstellen könnte, doch Viertel werden daraus eher nicht. Das Gemeinwesen hat für Geselligkeit sehr verschiedene Plätze.

Wir sind in sehr kurzer Zeit der alten agrarischen Welt entwachsen. Die Emanzipation subalterner Schichten hatte quer durch das 20. Jahrhhundert in rasendem Tempo an Breite gewonnen. Dennoch denken heute viele die Stadt noch in Kategorien des Mittelalters: Palais, Dom, Marktplatz, Mauer. Das ist in den Köpfen, egal wie unrealistisch. Die Städte wurden inzwischen polyzentrisch, als die Wirtschaft sich auf Flächen der Peripherie ausweitete, wo der Bau größerer Objekte viel müheloser ist, als sich in gewachsene Ensembles einzufügen.

Die Dörfer der Kleinregion Gleisdorf sind heute ohne gewachsene Zentren. Das geht auf Gemeindezusammenlegungen in den 1960er Jahren zurück. Menschen haben also bei ihren Lebensräumen auf vielfache Arten ihre Mitte verloren. Dafür hat sich ab den frühen 1990ern mit den (damals) sogenannten Neuen Medien eine neue Infosphäre entfaltet, die uns heute auf radikale Art umgibt, seit Online-Zugänge so billig sind.

Inzwischen sagt niemand mehr Neuen Medien. Die Medienkonvergenz ist als Begriff ebenso aus dem Rennen, da sie längst Alltagsrealität wurde. Raumüberwindung hat daher seine Entsprechungen im Netz der Netze. Unsere Kinder bilden Communities mit Technologiestützung auf Arten, die mir in meinen Kindertagen als pure Science Fiction erschienen wären.


Kleinkunst im Salon-Format: Das Wosnei x im Gleisdorfer Zentrum

Aus all dem leitet sich freilich auch ab, daß die reale soziale Begegnung keineswegs verzichtbar geworden ist. Telekommunikation und Telepräsenz ersetzt uns nichts von den altbewährten Formen der Geselligkeit, erweitern sie im günstigsten Fall und belasten sie gelegentlich.

In der vorigen Notiz zum Thema habe erwähnt, daß mir die Stadt stets als eine Erzählung erschien. Der gestaltete Raum als Narrativ. Ein Ort von Bedeutungszuweisung. Das betont die leibliche Anwesenheit, die reale soziale Begegnung. Dafür schafft heute zum Beispiel die Wirtschaft Anlässe.

In Gleisdorf sind das einerseits Erlebnisangebote in Einkaufszentren. Dem gegenüber gibt es andererseits organisierte Events, die uns das City Management mehrmals im Jahr bietet. Dabei werden auch tradierte Bezugspunkte wie Ostern oder Advent für Inszenierungen genützt. Oder kleine Veranstaltungsserien mit Musikformationen in gastronomischen Betrieben.

Unabhängig davon bleiben sporadische Geselligkeitsangebote einzelner lokaler Unternehmen, die sich in vielen Fällen als Kulturveranstaltungen ereignen. Dabei haben die letzten Jahre kuriose Erfahrungen möglich gemacht. Da kommt es dann schon vor, daß eine kommunale Kulturabteilung dazu tendiert, Kunst und Kultur zur Magd des Marketings zu machen, während Geschäftsleute die Kunst in ihren ursprünglichen Agenda stärken.

Bei Kunst Ost war es von Anfang an wichtig zu fragen: Wer bespielt womit die Außenhaut der Innenstadt? Dabei ging es nicht um Aufgaben des Stadtmarketings, sondern um das, was in anderen Kulturen Mahala genannt wird. (Betonung auf dem letzten a.) Diesen Begriff habe ich erstmals vom bulgarischen Architekten Grigor Doytchinov gehört, als wir im 2005er Jahr an den schon erwähnten Themen saßen.

Die Stadt als Schnittpunkt und Drehscheibe

Bei meinen Reisen auf den Balkan habe ich außerdem von diesem Motiv gehört und solche Momente gesehen: südslawische Leute sagen „Idem na divan“. Das ließe sich mit „Ich gehe nach Diwan“ wörtlich übersetzen, meint das „Diwanisieren“, eine bestimmte Art der Geselligkeit im öffentlichen Raum von Dörfern.

Da wäre sie nun wieder, die Dorfgemeinschaft, von der auch unsere Leute erzählen und die wir im Städtischen zum Beispiel in Cafés und bei den Kulturveranstaltungen von Geschäftsleuten genießen oder gelegentlich an Stellen des öffentlichen Raumes, die dann Hot Spots benannt werden. Gleisdorf hat überdies einen Stadtpark. Der eignet sich auch auf solche Art.

Was wir bei Kunst Ost nun schon einige Jahre unter dem Stichwort „Dorf 4.0“ erkunden, bezieht sich auf drei Dörfer ohne Zentren. Das ist rund um die Stadt Gleisdorf angeordnet, die natürlich eine urbane Situation anbieten. Diese gesamte Anordnung steht unter dem Begriff Kleineregion Gleisdorf, welche ihrerseits der Energieregion Weiz-Gleisdorf zugerechnet wird.

Das stellt einen Bezug zur Bezirkshauptstadt Weiz her. Die gesamte Situation hat sich durch stellenweise Industrialisierung aus dem ursprünglich knappen und kargen Leben der agrarischen Welt herauskristallisiert.

— [Dorf 4.0: Stadt-Land] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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