Am Ostersonntag waren die Kirchenglocken um sieben Uhr morgens wieder zu hören. Ab Gründonnerstag hatten sie geschwiegen, waren „nach Rom geflogen“, wie es in meinen Kindertagen hieß. Dafür erklangen im Raum Gleisdorf Osterratschen.
Dieses Brauchtum zählt übrigens seit 2015 zum „Immateriellen Kulturerbe in Österreich“, wie es von der Unesco aufgezeichnet wird: „Das Ratschengehen der örtlichen Jugend ist ab dem 18. Jahrhundert entstanden.“ Es fällt da in die Kategorie „Gesellschaftliche Praktiken, Rituale und Feste“: [Quelle]
Das Gesamtverzeichnis bietet einen interessanten Überblick, was heute als Brauchtum und als relevantes Kulturerbe eingeschätzt wird: [link]
Da steht Urbanes wie „Die Tradition der Wiener Kaffeehauskultur reicht bis Ende des 17. Jahrhunderts zurück“ im Kontrast zu „Seit Jahrhunderten wurden und werden Märchen, Sagen, Legenden und Schwänke mündlich weitergegeben. Die dialektalen Ausdrucksweisen sind ein wesentliches Merkmal der Überlieferungen.“
Da steht Höfisches wie „Die Gründung der Wiener Sängerknaben geht auf eine Verordnung Kaiser Maximilians im Jahr 1498 zurück“ dem Volkstümlichen gegenüber: „Das Maultrommelspiel zählt zu den ältesten Musikpraktiken der Menschheit und ist vor allem bei den asiatischen Turkvölkern und in Europa verbreitet.“
Siehe zu diesen Zusammenhängen auch „Brauch ist Kultur“ im Austria-Forum: [link] Wer sich ausführlicher darauf einlassen möchte, findet hier eine Informationsübersicht: „Informationen zu Brauchtum in Österreich“ [link] Dort sind auch etliche Bücher zum Thema in elektronischer Form, abrufbar.
Ich hab im vorigen Beitrag [link] zum Thema Brauchtum erwähnt, wie das Kirchenjahr mit seinen Bräuchen ein Fundament dieses kulturellen Bereiches bildet. Ich setze als bekannt voraus, daß dabei von der Kirche einst auch heidnische Bräuche übernommen und integriert wurden. Die Ostereier sind markante Beispiele dafür.
Offenbar ein wiederkehrendes Phänomen; nämliche Bestehendes zu besetzen, in die eigenen Konzeption einzubinden. Volkskundlerin Elisabeth Wallnöfer beschrieb in ihrem Buch „Geraubte Tradition“ den kuriosen Versuch der Nazi „mit unbedingtem Willen“ die „Schaffung einer Zivilreligion“ durchzusetzen.
Wallnöfer schilderte einen „Angriff auf die christlichen Bräuche“, welche sie als „eigenständige, an Schrift und Tradition gebundene Handlungen“ sieht: „Werk und Wort, so phrasenhaft dies zunächst klingen mag, haben eine metaphysischen Ursprung zum Grunde, sonst wären sie ihrer Eigentlichkeit beraubt.“
Das ist ein interessante Kriterium. Die nationalsozialistische Betonung von „ehemaligen Kultstätten und geheiligten Kraftorten“ könnte uns auch aus der Gegenwart bekannt sein; vor allem das Vermarkten von „Kraftorten“ und sogenannten „Kraftspendedörfern“.
Es erscheint überhaupt sehr auffällig, wie ausdauernd die Wirtschaft, dabei diverse Tourismus- und Citymanagements sich dieser Themen bedienen, besser gesagt: diese Themen bewirtschaften. War einst die Kirche eine dominante Quelle der Identitätsangebote für unsere Gesellschaft, so ist es heute unübersehbar die Werbeindustrie.
Derlei stellt Wallnöfer in den Kontrast zur „Kunst der Kulturalisierung“ und betont: „Der Charakter religiöser Ereignisse ist stets die Vergegenwärtigung eines Mysteriums.“ Sie folgert an anderer Stelle: „Diese christlichen Bräuche sind folglich als Kulturleistung bedeutsam.“
Zum „kulturellen Großangriff“ der Nazi, zur „Neudeutung der Kultur“, zählt Wallnöfer auch die „Neuerfindung der Tracht“ und „den Muttertag oder die Lebensfeiern als Ersatz für Taufe, Hochzeit und Begräbnis“. Zum Muttertag meint sie allerdings, der sei „im Gegensatz zur lange verbreiteten Meinung, keine Erfindung der Nationalsozialisten“.
Ich denke, wir sollten heutzutage genauer hinsehen, wer uns von Brauchtum und Volkskultur erzählt.
— [Dorf 4.0: Warum Volkskultur?] —