In der Betrachtung von Volkskultur und in den Fragem nach Volksmusik lande ich zwangsläufig auch bei Überlegungen, was die Unterhaltungsindustrie an all dem bewirkt hat, was eine weltumspannende Mediensituation aus all dem macht.
Raumüberwindung auf viele Arten hat uns mit Volksmusiken aus anderen Weltteilen vertraut gemacht; so sehr, daß unsere Biographien davon geprägt wurden. Daher wollte ich von Musiker Chuck LeMonds erfahren, wie er das erlebt, da er aus den USA stammt, aber schon sehr lange in Österreich lebt und hier als Künstler aktiv ist.
„Wenn ich zurückblicke, ich komme definitiv aus einer Welt der Folk Music. Das bedeutet, ich habe von Schallplatten und von anderen Leuten gelernt, nicht durch eine formelle Musikerziehung. Die kam erst später.“
In dieser Situation spielten Genres, Musikrichtungen, keine Rolle: „Meine Anfänge waren also nicht so analytisch. Sie kamen aus dem Bedürfnis mich auszudrücken. In diesem Sinn komme ich von einem Folk-Background.“
Dann geschieht das Naheliegende. Wie die Sprache eines Menschen für Eindrücke aus der Umgebung offen ist und sie schließlich abbildet, wiedergibt, tut es auch die Musikalität. „Über die Jahre hab ich begonnen, andere Einflüsse aufzunehmen. Country, Blues, Funk, Rock & Roll.“
Dabei hat sich gezeigt, daß ein Leben in dieser Musik grundsätzlich keine Notwendigkeit schafft, sich ganz einem bestimmten Genre zu verschreiben und den eigenen Ausdruck abzugrenzen, also einzuschränken. Vielleicht muß man ja umgekehrt fragen, welche guten Gründe allfällige „Traditionsbewahrer“ nennen können, um Sprache oder Musik auf eine ganz bestimmte Art zu erhalten.
Es ist zwar sehr interessant und mag auch für die Wissenschaft Vorteile bergen, wenn man etwa eine „Sprachinsel“ findet, wie sie manchmal Auswanderer bilden, die dort auf eine Art sprechen, welche wir hundert Jahre oder länger nicht mehr kennen. Aber unsere Kultur ist selbstverständlich der permanenten Veränderung ausgesetzt. Oder es wäre angemessen zu betonen: Permanenten Veränderung gehört zum Wesen von Kultur?
Das bedeutet auch, mit seiner Umgebung in Resonanz zu sein. Das „Zoon politikon“, das Lebewesen in Gemeinschaft, gedeiht in solchem Austausch und erstickt, wenn derlei unterbunden wird. Wer immer allfällige „Reinheitsgebote“ aufbringt, wird diese gut begründen müssen.
Chuck LeMonds meint, letztendlich, ganz persönlich betrachtet, „passe ich nicht wirklich in eine dieser Kategorien. Ich bin kein Experte für irgendeinen dieser Stile, aber sie haben mich alle gleichermaßen beeinflußt.“
Lassen Sie mich annehmen, das sei seit Jahrhunderten der ganz normale Zustand reisender Musikanten. Das kann man exemplarisch an der Kultur der Roma sehen, die in ihrer Musik, aber auch in ihrer Sprache Romani, Elemente aus all den Gegenden aufgenommen haben, welche sie befahren.
Volksmusik ist davon geprägt, daß sie regionale Eigenheiten zeigt und darüber teilweise zuordenbar bleibt. Wo aber Musikanten nicht hauptsächlich seßhaft sind, kommt es ja zwangsläufig zu Vermischungen; sehr zum Gefallen des Publikums, wie man annehmen darf.
Heute sind es vor allem die Medien, eine weltumspannende Info-Sphäre, durch die wir Eindrücke und Einflüsse aus aller Welt beziehen. Aber auch im engeren Umfeld werden neuen Eindrücke gesucht und aufgenommen.
Ich erinnere mich gut, wie willkommen einst Gäste aus anderen Ländern waren, wenn bei den seinerzeit populären Folkfestivals der Steiermark, ob im Retzhof oder beim Bärfolk etc., aufgespielt wurde. Bewährte Formationen wie Aniada a Noar pflegen bis heute das wiederkehrende Zusammenspielen mit Leuten aus Griechenland, Italien, England…
Zurück zu Chuck LeMonds. Er meint: „Diese ganze Kategorienfrage war für mich all die Jahre eine Qual. Ich hab nie wirklich gewußt, wie ich das, was ich tue, nennen soll. Ich hab das schon Folk, Blue Folk, Funky Blue Folk, genannt. Ich hab mich als Singer-Songwriter bezeichnet, von Folk Rock gesprochen, und meine aktuelle Band „The Living Trees“ spielt Country Soul. Was, zum Teufel, soll das sein?“
Da kommt LeMonds dann auf einen interessanten Punkt: „Ich hab also kein tiefes Bedürfnis, als Teil einer Folk Music-Tradition bezeichnet zu werden, aber ich hab großen Respekt vor dieser Tradition. Gerade auch als Songwriter.“
Hier klingt schließlich an, was mich heute speziell interessiert, wo nämlich alte Traditionen oder traditionelle Formen in eine neue Situation der Populärkultur eingegangen sind. Das ist deshalb von Bedeutung, weil wir alle nicht mehr leben wir im frühen 19. Jahrhundert.
Die Leibeigenschaft wurde 1848 abgeschafft. Die Arbeiterbewegungen erkämpften Bedingungen, welche uns heute Freizeit sichern. Seit der Nachkriegszeit können wir uns vielfach Autos leisten. Wir sind mobil geworden, dürfen und können reisen. Bei all dem umgibt uns eine mediale Situation, die uns von überall her Informationen und Anregungen liefert.
Was immer das Volkskulturelle sei, es ist eben heute auch das Populärkulturelle und hat fundamental andere Bedingungen, Zusammenhänge, als volkskulturelle Phänomene vor 80 oder 100 Jahren, da unsere Leute mehrheitlich noch nicht einmal Wasser und Elektrizität im Haus hatten.
Chuck LeMonds sagt: „Ich sehe nicht, in welche Kategorie ich passen könnte. Wenn Songwriters aus Amerika zu uns kommen und wir treten gemeinsam auf, habe ich oft das Gefühl, daß sie einen viel homogeneren Klang haben, wo alles in eine Tasche passt.“
Wirft das Fragen nach „Authentizität“ auf? Ich glaube nicht. Solche Kontraste sollten als typisch für eine medial vernetzte, globalisierte Welt begriffen werden. LeMonds: „Ich mag wirklich sehr, was sie machen, aber meine stilistische Palette ist, wie ich gerne annehme, breiter. Manchmal bin ich ganz unsicher, wie das alles zusammenhängt, aber es ist eben das, was ich mache.“
Was sollen wir nun mit den Kategorien? Was können wir damit anfangen? Gut, sie helfen uns bei mancher Orientierung. Sie beinhalten interessante Details. Aber sie müssen ja nicht unser Leben einengen. Außerdem bietet gerade die Popkultur genug Hinweise, wie problematisch so manche Kategorienwirtschaft ist, was uns da von den kommerziell orienterten Major Companies der Unterhaltungsindustrie aufgedrängt wird.
LeMonds: „Wie du ja schon angemerkt hast, es ist mehr das Musikgeschäft, von dem Kategorien gefordert werden, und da suche ich dann eine, die ich akzeptieren kann.“ Worauf läuft das hinaus?
„Letztlich gibt es da in Österreich die letzten 15 Jahren eine Songwriting-Szene mit ihren Festivals, aber es schaut nicht so aus, als ob ich da wirklich hineinpassen würde. Ich halte das alles für sehr Pop-orientiert. Gut, die Jugend braucht Rollenangebote. Wenn ich mich selbst Songwriter nenne, ist das in dieser ‚neuen’ Szene nicht sehr hilfreich. Aber das ist es, was ich nun die letzten 40 Jahre gemacht hab.“
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