Möchte jemand das 20. Jahrhundert begreifen, wie die Oststeiermark ihren Umbruch vom Armenhaus zu einem blühenden Garten vollzog, sollte man beispielsweise auf die Gastfreundschaft von Handwerker Bernhard Lagler hoffen.
Dann könne man eventuell neben ihm stehen, auf die Balkonbrüstung gelehnt. So erblickt man in den Hügeln von Labuch ein paar Bezugspunkte solcher Geschichten. Dort das Haus des Großvaters, da das Haus des Vaters, drüben eine kleine Landwirtschaft, die heute ihm und seiner Frau gehört.
Außerdem das vormalige Gasthaus Lechner, eine kleine Wegstrecke entfernt. In dieser Wirtschaft gab es einst das einzige öffentliche Telefon der Gegend. Wenn etwa Kundschaft aus Graz anrief, kam von dort ein Bub geradelt, „Telefon ausrichten“. Darauf machte sich der Vater auf den Weg, um zurückzurufen.
Schon der Großvater ist hier unternehmerisch tätig gewesen. „Alle Lagler-Buben haben bei ihm Schuster gelernt.“ Insgesamt fünf, darunter Bernhards Vater Konrad. Es gab auch noch drei Lagler-Mädchen im Haus; plus etliche Angestellte.
Das ist einerseits die klassische vorindustrielle Betriebsform. Wohnraum und Arbeitsraum lagen beieinander, was als „Das ganze Haus“ galt. Das altgriechische Wort für so ein Gefüge ist „Oikos“, wovon sich der Begriff Ökonomie herleitet.
Lagler sagt, genau das würde ihm auch heute so zusagen, dieses Beieinander von Lebens- und Arbeitsraum. Das hat in seinem Fall eine durchgängige Kontinuität über mehrere Generationen, die sich baulich zeigt, aber auch in biographischen Details.
Die Schusterwerkstatt, welche Lagler am 8.8.1988 übernommen hat, war 1945 erbaut worden. Er hatte davor die Bulme besucht, sich Richtung Matura gequält, ging in den Stahlbau, hatte aber nach etwa vier Jahren genug „von DIN und Norm und dieser ganzen Theoretisiererei“, denn: „Ich bin kein Techniker“.
Deshalb absolvierte der fertige Maschinenbauer dann noch die Schusterlehre, schuf so die Grundlage für einen Fachbetrieb, dessen Auftragsbücher augenblicklich Arbeit für zwei Jahre vorweisen. Er hat sich mit seinem Kompagnon Christian Pilich auf Nahttechnik, Polsterungen und die Verdecke von Kraftfahrzeugen spezialisiert, besonders auf die von Klassikern und exklusiven Modellen.
Aus privater Passion sammelt Lagler betagte Motorräder mit den Markenschwerpunkten Puch und Ducati. Er ist für das Konservieren, nicht für das Restaurieren Das bedeutet zwar ein Instandsetzen, damit die Zweiräder fahrbreit sind, aber dabei zählen für ihn Originalzustand und ein maximaler Erhalt vorliegender Substanz.
Seine Perlen werden also nicht quasi auf fabrikneu poliert, sondern sollen so genau wir möglich die Zeit ihres Erscheinens ausdrücken und den Zustand nach Jahrzehnten.
Damit mag schon deutlich werden, es geht Lagler um Zusammenhänge, um die Stimmung einer bestimmten Ära, um Abläufe und Authentizität. Da merkt man dann auch, wie stark er der eigenen Familiengeschichte verbunden ist, die ihn auffallend geprägt hat.
So wird ein klarer Arbeitsethos erkennbar. Er ist gerne tätig. Er weiß, was er kann, macht sich damit nicht wichtig, verzichtet auf große Gesten, denn alle, die etwas vom Fach verstehen, sehen ja ohnehin, mit wem sie es zu tun haben. Den anderen braucht er es nicht zu erklären, Hauptsache er weiß selbst, wer er ist.
Als Lagler einst von der Bulme in die Arbeitswelt kam, seinen ersten Job antrat, wurde er von seinem Boss recht warmherzig empfangen: „Bub, gelernt hast viel, gell? Können tust einen Dreck. Ich werde dir das jetzt beibringen.“
Sie erkennen das Prinzip? Der Erfahrene bringt dem Neuling etwas bei, da er kann, was er sagt. Dazu gab es freilich in Teilen der Arbeitswelt auch noch andere Prinzipien. Zum Beispiel: „Mußt schon selber draufkommen. Mir hat’s auch keiner gezeigt.“
So oder so war man gefordert, seinen Grips anzustrengen, seine Phantasie einzuschalten, vor allem aber nach möglichen Fehlern nicht herumzulavieren, sondern eine neue Entscheidung zu treffen, einen neuen Schritt zu tun.
— [Die Autosattler] [Dorf 4.0] [Bäuerliche Angelegenheiten] —