Im letzten Abschnitt dieses Textes wird zu lesen sein, daß ich die Begrifflichkeit „Volkskultur 4.0“ als „ein Türschild zu einem Arbeitsraum“ verstehe, nicht als Kennzeichnung eines aktuellen kulturellen Phänomens. In diesem Raum muß erst die Arbeit begonnen werden, müssen erst Fragen gefunden werden; auch um besser zu verstehen, was gerade hinter uns liegt.
Ich sehe im Rückblick sowie in den Zusammenhängen einer zeitgemäßen Wissens- und Kulturarbeit hier in der Provinz vier Themenfelder, die ich der Einfachheit halber so überschrieben hab: Volkskultur 1.0, 2.0, 3.0 und 4.0, was jenen bei der Orientierung nützen soll, die in diesen Bereich der Kulturarbeit einsteigen möchten.
Wir beschäftigen uns schon seit Jahren mit dem, was Begriffe wie Volk, Volkskultur, Identität oder Nation überschreiben. Das liegt unter anderem auch darin begründet, daß diese Begriffe oft zu beliebigen Containerwörtern verkommen, um dann mit fragwürdigen Inhalten befüllt zu werden.
+) Volkskultur 1.0
Niemand von Stand interessierte sich für kulturelle Bedürfnisse der Untertanen. Die mußten schuften, im Bedarfsfall Kriegsdienst leisten. Um allfällige Hungerrevolten zu vermeiden, waren keine kulturellen Maßnahmen nötig, sondern bloß volle Speicher und — für alle Fälle — wohlgenährte, gut trainierte Panzerreiter.
Mit diesen alten volkskulturellen Zusammenhängen ist unter uns folglich niemand befaßt, soweit wir über zeitgemäße Wissens- und Kulturarbeit reden. All das bleibt der Wissenschaft überlassen. Es taucht bestenfalls dort auf, wo schon vor einem Jahrhundert Kunstschaffende die Werke der „Primitiven“ und das Leben der Bauern als Inspirationsquelle würdigten; so etwa Kasimir Malewitsch.
+) Volkskultur 2.0
Das „Besitzbürgertum“ setzte sich ökonomisch, politisch und kulturell durch. Es kopierte zwar teilweise den Lebensstil der Aristokratie, entwickelte aber auch ganz eigene kulturelle Felder. Im Kielwasser dieses Standes, wo der Bedarf an Verwaltungskräften, Lehrpersonal etc. wuchs, suchte ein eher ärmliches „Bildungsbürgertum“ nach Legitimation auf einem faßbaren kulturellen Betätigungsfeld.
Dabei kam mindestens ab dem 18. Jahrhundert das „einfache Volk“ in den Fokus von kulturellen Ambitionen dieses Bildungsbürgertums. Die „ungebildeten Leute“ sollten belehrt werden, Erziehung erhalten, wurden zur kulturellen Bewirtschaftung entdeckt.
Dieses soziale Phänomen prägt bis heute die in Österreich populären Auffassungen von Volkskultur. Sieht man von Nischen ab, in denen etwa Arbeiterchöre oder Knappen-Kapellen gedeihen, fehlt die technische, die industrialisierte Welt weitgehend in dieser Volkskulturpflege. Es dominiert eine von Dreck und Schweißgeruch befreite Form der kulturellen Äußerungen aus der agrarischen Welt.
+) Volkskultur 3.0
Mit den Massenmedien und dem Reüssieren einer weltumspannenden Massenkultur überlagerten neue, trivialere Formen alles, was vom Bildungsbürgertum als „echte Volkskultur“ festgehalten wurde. Der Großteil des Volkes, das nicht bevormundet werden wollte, wandte sich diesen trivialen Formen zu, die schnell als „volkstümlich“ markiert und als „volksdümmlich“ abqualifiziert wurden.
Selbstverständlich erschütterte die neue Populärkultur als Massenkultur vieles, was für Volkskultur bis heute als konstituierend gilt. Das Regionale, das Ortstypische, das kleinräumig Erkennbare, Zuordenbare. Es wird bei all dem stellenweise immer noch verschwiegen, wie die ersten Großmeister europäischer Massenkultur, die Kulturbeauftragten der Nazi, dieses ganze Genre korrumpiert haben.
Ich nenne stellvertretend für diese Problemzone Gertrud Pesendorfer, Mitarbeiterin des SS-Ahnenerbes, und ihre effizienten Bemühungen, das Trachtenwesen umzuschreiben. Es ist verblüffend, wie viele Sujets, die aus unserer jungen Massenkultur kommen, genutzt werden, um „lange Dauer“ und Legitimation über „Althergebrachtes“ zu simulieren.
Da ist eine Ratlosigkeit tausender Kulturbeauftragter des Landes gegenüber der „volkstümlichen“ Volkskultur, wenn es nicht gerade um eine touristischen Nutzung der trivialen Spielarten geht oder schlicht um Publikumswirksamkeit im eigenen Haus.
Dabei fiel auffallend unter den Tisch, daß es eine „Volkskultur in der technischen Welt“ gibt, die mindestens in den letzten hundert Jahren Formen und Details herausgebildet hat, welche heute von weiten Kreisen engagierter Menschen gepflegt werden. (Zum Beispiel die Schrauber- und Sammlerszene der Fahrzeugwelt.)
Diese und andere Aspekte verdienen eine aufmerksame Betrachtung, legen auch Schlußfolgerungen nahe, da wir uns längst in neuen und radikalen Umbrüchen der technisierten Gesellschaften rund um die Welt befinden.
+) Volkskultur 4.0
Diese Begrifflichkeit ist vorerst bloß ein Türschild zu einem Arbeitsraum, der belebt werden will, damit die Arbeit beginnen kann. Vermutlich geht es vorerst vor allem darum, gute Fragen zu finden und zu stellen.
Die vorhin empfohlene Revision des Themenfeldes Volkskultur 3.0 sollte uns nützen, um uns in dem zu orientieren, was gerade als Vierte Industrielle Revolution zur Debatte steht. Davon ist für unsere Themenstellung vor allem zweierlei brisant:
1) Die Entwicklung von selbstlernenden Systemen, künstlicher Intelligenz und generell der Robotik beschert uns nicht Schübe, sondern radikale Sprünge in dem, was wir bisher nur Menschen zugetraut haben und was Maschinensysteme inzwischen können.
2) Wir gehen einem auffallenden Ende der altvertrauten Massenbeschäftigung entgegen, wie wir das im bisherigen Industriezeitalter kennengelernt haben. Dadurch verändern sich Gesellschaften radikal, dadurch wird das Verhältnis von Arbeitszeit zu Freizeit völlig neu zu klären sein, damit erhält „Volkskultur“ einen völlig neuen Kontext.
— [Das KulturGeviert] [Volkskultur] —