Die chemischen Elemente können sehr präzise bestimmt und in einem Periodensystem exakt geordnet werden. Vor solchem Hintergrund ist es eigentlich eine gute Nachricht, daß sich kulturelle Belange keinesfalls so genau ordnen lassen.
Kunst und Kultur sind mit wesentlich mehr Spielraum ausgestattet und erlauben uns Menschen, auch aus Widersprüchen wichtige Anregungen zu beziehen, das Paradox zu schätzen, den Dissens als fruchtbar zu erleben.
Wo aber ein Wettkampf um Ressourcen und Positionen stattfindet, scheinen manche Klärungen wichtig, die ansonsten in der kulturellen Praxis eher nachrangig sind.
In meinen Notizen zum Thema Volksmusik habe ich an einer Stelle [link] auf den Musikethnologen Hermann Fritz verwiesen, der betont, daß Volkskultur „keine gewöhnliche Benennung ist, sondern ein Relevanzsignal, ein Wichtigkeitsetikett.“
Das heißt, da geht es auch um Fragen der Definitionsmacht: Wer darf sagen, was es ist? Fritz erwähnt die „Suggestivkraft des Relevanzsignals“ und sagt über sein Metier, die Wissenschafter „setzen diese Wirkung pädagogisch ein, um ihre Ideen an den Mann zu bringen“.
Über dieses Berufsfeld und speziell die Volkskunde schrieb Volkskundler Dieter Herz (am 3.12.1992 in der Zeit): „Die Anfänge des Faches liegen im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Herder das Volkslied entdeckte, in dem er die Volksseele wesen sah.“
Daß sich hier Professionisten nach oben sozial stärkeren Kreisen andienten, indem sie sich hervortaten, das „einfache Volk“ zu studieren, zu belehren, zu erziehen, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unübersehbar.
Herz: „Als dann die Grimms ihre Märchen und Weistümer in die Scheuern fuhren, war die Richtung klar: Das Volk wurde durch sozialromantische Butzenscheiben beäugt. Lieblingsobjekt: der Bauernstand. Was Wunder, daß verblasene Ideen wie die von der ‚Volkspersönlichkeit’ dem Volkstumswahn der NS-Ideologie zupaß kamen.“
Hat sich eine gegenwärtige Kulturpolitik von solchen Altlasten verläßlich befreit? Sind wir Kulturschaffende gerüstet, solche Terrains notfalls gegen unredliche Zugriffe zu verteidigen, wo etwa die Tagespolitik ungeschminkt Raubzüge im Kulturbereich versucht?
Haben wir sachlich begründete Standfestigkeit, um dagegenzuhalten, wo beispielsweise rechtspopulistische Kreise sich in zynischer Fahrlässigkeit Versatzstücke aus diesen Themen reißen, um sich angebliche Kompetenzen und vaterländische Legitimation zusammenzuklittern?
Vom Soziologen Gunnar Heinsohn stammt der Hinweis, um Brot werde gebettelt, aber um Rang werde geschossen.
Diese Fragen nach Rang, Position und Legitimität sind also höchst brisant; gerade jetzt, wo der wohlhabende Norden des Westens in der Konfrontation mit Elenden und Vertriebenen erbebt und dabei von den Fragen nach den angeblichen Werten des Abendlandes, nach Identität und Kultur widerhallt.
Haben wir Leute aus der Kultur- und Wissensarbeit dazu einigermaßen fundierte Ansichten, die wir in Debatten vertreten und in Streitgesprächen verteidigen können?
— [Volkskultur] —