Wir untersuchen in der Reihe „Handfertigkeit und Poesie“, aus welchen Quellen die verschiedenen Genres schöpfen, wo Körper und Geist gemeinsam um ein Ergebnis ringen. Dabei ist der Körper keinesfalls nur „ausführendes Organ“, sondern ebenfalls gestaltende Instanz.
Nun ergeben die Fragen nach unserer Wahrnehmung einen Angelpunkt solcher Untersuchungen. Das ist in der Kunst gleichermaßen brisant wie in der Alltagsbewältigung.
Als in Graz 1996 das Museum der Wahrnehmung eröffnet wurde, hielt Heinz von Foerster im Rahmen der Auftaktveranstaltung einen Vortrag. Der Publikumsandrang war so enorm, daß wir recht dicht gedrängt stehen mußten. Von Foerster blieb unter uns, stieg einfach auf einen Sessel und begann seinen Vortrag, wenn ich mich recht erinnere, mit den Worten: „Das Gehirn bildet nicht ab“.
Ich kenne derzeit keine überzeugendere These als jene der radikalen Konstruktivisten, die besagt, daß wir die Welt nicht sehen können, wie sie uns umgibt, weil eben das Gehirn nicht abbildet, was da draußen vorgeht. Statt dessen deutet es die eingehenden Signale, welche ihm von unseren Sinnen übermittelt werden. Demnach konstruieren wir unser Bild von der Welt.
Ich habe diese kleine Schilderung vorausgeschickt, damit begreiflich wird, warum Kerstin Feirers Text „JETZT… wissend, dass die Vergangenheit genauso fantastisch wird, wie es dir Zukunft war!“ für diesen Abschnitt des Unternehmens so wichtig ist.
Es reicht nicht, daß wir Menschen auf die Finger sehen, daß wir sie nach ihren Intentionen befragen. Wir müssen uns auch auf Zusammenhänge einlassen, die unsere Fundamente betreffen. So eben die menschliche Wahrnehmung und wie wir uns über subjektive Realitäten hinweg miteinander verständigen, um eine Art „Konsensrealität“ einzurichten.
Wo etwas vorläufig außer Streit steht, könnte man einen Konsens annehmen, der nicht „objektivierbar“ ist, weil wir ja aus uns selbst nicht herauszutreten imstande sind. Was immer in uns vorgeht, muß subjektiv bleiben. So gesehen ist „Wahrheit“ bestenfalls ein Glaubensgegenstand.
Wir haben aber viel Erfahrung, wie man aus einer Summe subjektiver Ansichten eine intersubjektive Übereinstimmung ziehen kann. Wir brauchen dazu unter anderem Kontinuität, um beispielsweise in der Selbstwahrnehmung Identität zu finden. Andrerseits müssen wir mit möglichen Brüchen umgehen können, damit wir nicht endlos im Kreis rennen.
Die Welt wird uns dabei zum Vexierspiegel. Schon die kleinste Positionsänderung verschiebt die Ansicht. Feirer schreibt: „Würde ich im Jetzt nicht wissen, dass es ein Gestern gab, wie könnte ich an ein Morgen glauben?“
Wissen und glauben. Das sind Bereiche, die einen achtsamen Umgang verlangen, um nicht der Tyrannis alle Türen zu öffnen. Feirer sagt in Debatten, Auseinandersetzungen gerne: „Es gibt nur da Jetzt.“ Sie schreibt: „Wir unterstellen der Vergangenheit Entwicklung, indem wir an Wirksamkeit glauben.“
Das sind ja auch Mittel, um Legitimation zu unterstellen, um dieses oder jenes Handeln zu rechtfertigen. Es geht dabei um Kategorien wie Definitionshoheit und Wirkmächtigkeit.
Das berührt selbst simple Fragen, wie ich sie als Lehrbub schnell zu stellen wußte, um mich innerhalb einer vorgefunden Hierarchie zurechtzufinden: Wer darf mir was anschaffen und warum? Wer nicht?
Feirer: „Gefiltert, gefärbt und vergessen wird das Erinnern zur Geschichte. Zu einer Geschichte im Kopf, die mit dem Jetzt von damals nichts gemein hat, weil sie gedacht wird von einem, der damals nicht war.“
Wir erleben gerade eine Phase enormer Umbrüche, von denen nicht bloß einzelne Biographien oder Menschengruppen betroffen sind, sondern die ganze Welt bewegt wird. Wir erleben Konfrontationen, Konflikte, die stellenweise in offene Gewaltakte ausufern.
Es ist daher im Augenblick mehr als angebracht, miteinander zu verhandeln, worauf wir uns berufen, wenn wir bestimmte Ansichten durchsetzen möchten; und zwar JETZT… wissend, dass die Vergangenheit genauso fantastisch wird, wie es dir Zukunft war.
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