Die Praxis des Kontrastes könnte als eine grundlegende Anforderung menschlicher Gemeinschaft betrachtet werden. Ich stehe sogar zu mir selbst oft genug im Widerspruch. Genau das wird in unserer Kultur aus ideologischen Gründen manchmal zurückgewiesen, sogar geächtet.
Anders ausgedrückt: Widerspruchsfreiheit gilt als Ideal, was problematisch ist. Faktum bleibt, daß wir keine Wahrheiten entstehen lassen können, indem wir bloß alle Widersprüche eliminieren. Ich höre schon manche sagen: Das ist so theoretisch!
Aber selbst diese Behauptung, besser: diese Entgegnung, ist ihrerseits theoriegestützt. Ohne Reflexion und Meinungsbildung könnte mir so eine Behauptung nämlich nicht entgegengebracht werden. Wir sind dauernd theoretisch, alle, bilden Annahmen.
Diese kleine Einleitung scheint mir nötig, um klar zu machen, daß wir in der regionalen Wissens- und Kulturarbeit nicht darauf verzichten können, uns stets neu über die Praxis des Kontrastes, ihre Bedingungen und ihren Zustand zu verständigen.
Auslöser für diesen Round Table im Rahmen des 2015er Kunstsymposions waren öffentliche Debatten über das Ankommen Vertriebener in Gleisdorf und all das, was wir derzeit als „Flüchtlingsdebatte“ erleben. Allerdings hatte ich keinen Grund, nun in Gleisdorf eine weitere „Flüchtlingsdiskussion“ zu veranstalten. Mich interessierte die Frage nach dem Fremden in uns selbst und wie wir einander als „Entfremdete“ begegnen.
Eine Annahme ging all dem voraus, daß es nämlich uns ohne „Das Fremde“ gar nicht geben kann. Wir sind auch physiologisch so gemacht, daß wir den Kontrast brauchen, den UNTERSCHIED, damit sich Wahrnehmung ereignen kann; auch und vor allem als Wahrnehmung seiner selbst.
Aber das ist vielleicht thematisch zu knapp gefaßt. Also bat ich einen Kreis höchst unterschiedlicher Personen an den Tisch, um nach Erfahrungen mit dem und Vorstellungen vom Fremdsein zu fragen. Es kamen Tierarzt Karl Bauer, Unternehmerin Kerstin Feirer, Heilmasseurin Eveline Gabriel, Künstler Martin Krusche, Kunsthistorikerin Mirjana Peitler-Selakov, Bürgermeister Christoph Stark, Unternehmer Ewald Ulrich und die Kulturschaffende Helen Wieser.
Da wir neben den autochthonen auch zugewanderte Gäste am Tisch hatten, wäre es mir recht gewesen, mehr über diese Erfahrungen zu hören, denn ein vertrautes Land zu verlassen oder gar zu verlieren (wie etwa im Falle Jugoslawiens) hat sicher bemerkenswerte Konsequenzen.
So machte Wieser die interessante Bemerkung, daß die Gesellschaft ihres Herkunftslandes Neuseeland ausschließlich aus Menschen bestehe, die von wo hergekommen seien. (Die Besiedelung durch Menschen liegt nicht gar so lange zurück.)
Es wäre auch spannend gewesen, sich den Kontrasten innerhalb einer gewachsenen Community zu widmen, denn so viel ist sicher, wir sind einander entlang von Milieugrenzen oft genug mehr als fremd.
Feirer betonte zum Beispiel, daß in ihrer Arbeit für „Das Fremde“ auch andere Begriffe in Gebrauch seien, etwa „Das Neue“ oder „Das Außerordentliche“. Bauer betonte aufschlußreich: „Oft wird der Standpunkt durch den Standort geprägt.“
Der Abend war aber davon dominiert, daß sich in den Gesprächen stets die aktuelle Flüchtlingsthematik durchsetzte. Es blieb anzuerkennen, wie brisant und präsent diesbezügliche Fragen sind. Stark konnte aus seiner Position als Bürgermeister Gleisdorfs naturgemäß sehr klar Auskunft geben, was da gerade auf uns zukomme.
Mir scheint, seine wichtigste Aussage in einem der Zusammenhänge war, daß wir bedenken mögen, wenn jetzt die ehrenamtlichen Kräfte, die sich engagieren, ermüden und auslassen, bekommen wir ein riesen Problem. Das bedeutet unter anderem, wir sollen und können uns nicht bloß auf Politik und Verwaltung verlassen. In diesen Tagen und in dieser Sache ist die Zivilgesellschaft gefordert.
Zu solchen Fragen hatte der Vortag skurriles Anschauungsmaterial geliefert. Auf einer öffentlich einsehbaren Facebook-Präsenz von Stark hatte sich ein Bürger besorgt gezeigt und gefordert: „Deine Gedanken sollten momentan woanders sein, wie du als Buergermeister der Stadtgemeinde Gleisdorf uns vor der moslemischen Invasion schuetzen kannst.“
Hannes G. hat mit verblüffender Chuzpe demonstriert, wie man sich in die Rolle eines Schutzbefohlenen reklamiert, als wäre man noch Kind, und einen Lokalpolitiker als „guten Vater“ einfordert, der einem Sorgen und Ängste abnehmen solle.
Der „Besorgter Buerger Gleisdorfs“ erspart sich selbst die Einsicht, worin solche Konzepte der Tyrannis geschuldet sind, wo „ein Volk“ seinem „Führer“ vertraut; das Echo der Feudalsysteme, in denen der Feudalherr seinen Gefolgsleuten für eben ihre Gefolgs- und Lehens-Treue Schutz und Vorteile verspricht.
In solchen Hierarchien leben wir zum Glück/hoffentlich nicht mehr. Wir werden vermutlich etwas anspruchsvollere Konzepte brauchen, um uns der Gegenwart gewachsen zu zeigen.
Wir, als die erwähnte Zivilgesellschaft, also ein Ganzes, in dem verschiedene Personen – wie auch ein Bürgermeister – verschiedene Aufgaben haben, aber eine ganze Gemeinschaft Verwantwortung übernehmen möge. (Weitere Rückblicke auf diesen Round Table folgen.)
+) Die Praxis des Kontrastes [Doku]