Wir halten den Nationalstaat mit einer dominanten Ethnie, einer dominanten Sprache und daher mutmaßlich recht klar überschaubaren kulturellen Verhältnissen heute für so selbstverständlich, fast naturgegeben, daß im Alltagsdiskurs kaum noch deutlich wird, wie jung dieses ideologische Konzept ist. Und es hat keinerlei Anspruch auf Ewigkeit.
Um deutlich zu machen, daß der ethnisch „homogene“ Nationalstaat noch nicht gar so viel Geschichte hinter sich bringen konnte, nenne ich gerne das Datum 11. März 1882. Es ist das Jahr, in dem Robert Koch den Tuberkulosebazillus entdeckte und Antoni Gaudi den Bau der Sagrada Familia begann. Im Herbst dieses Jahres bekam das Wiener Rathaus den Rathausmann aufgesetzt. Zu Jahresbeginn hatten in den USA etwa 40 Companies den Standard Oil Trust gegründet.
Am 11. März 1882 hielt Ernest Renan an der Sorbonne einen Vortrag mit dem Titel „Was ist eine Nation?“, um damit eine politische Konzeption zu vertreten; im Kontrast zu einem kulturell determinierten Nationsbegriff.
In diesem Vortrag heißt es, „Das Dasein einer Nation ist — erlauben Sie mir dieses Bild — ein täglicher Plebiszit“, eine tägliche Volksabstimmung, in der sich das Volk für diese Nation stets neu entscheidet. Das meint, wer die Regeln dieser Gemeinschaft akzeptiert, mitträgt, gehört dazu.
Wir sind dagegen in einer anderen Denktradition aufgewachsen, wonach nicht die Einhaltung von erklärten Regeln, sondern kulturelle Merkmale als konstituierend gedeutet werden. Eine bestimmte Sprache und dieses höchst unscharfe „Unsere Kultur“ werden zu maßgeblichen Kriterien erklärt.
Ich empfehle den Vortrag von Renan gerne zur Lektüre:
+) Deutsche Version als HTML-Datei: [link]
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Damit wir uns recht verstehen, ich unterschätze keinesfalls die Kraft des Ethnos und hab klare Vorstellungen, wie gravierend von einem Menschen darin mögliche Brüche erfahren werden. Wir haben allerdings neu zu klären, ob
a) mindestens unsere globalen Erfahrungen mit ethnischen Konflikten im 20. Jahrhundert und
b) zeitgemäße Entwicklungen von Wirtschaft und Kultur
es tatsächlich nahelegen, auch weiterhin ethnische Kriterien als Grundlagen einer Staatenbildung (Nation Building) zu nutzen.
Hinzu kommt, daß die Welt nie ohne Wanderbewegungen war. In den Feldzügen der Nazi wurde versucht, das abzustellen. Danach fanden wir das Projekt der ethnischen Säuberungen auf dem Balkan in verschiedene Praxisformen übersetzt.
Heute sehen wir, was es hauptsächlich zwischen Sunniten und Schiiten bewirkt, wo etwa der sunnitisch geprägte „Islamische Staat“ mit bis ins Absurde gesteigerter Gewalttätigkeit an eine Staatenbildung gegangen ist, welcher vorerst noch bestehende Staaten nichts Ausreichendes entgegensetzen.
Es gibt viele verschiedene Gründe, warum Menschen ihre vertraute Heimat verlassen, um in der Diaspora zu leben. Zwischen eigenen Entscheidungen, ganz aus freien Stücken, und allerhand Zwangslagen, kennen wir dafür unzählige Motive.
Im Projekt „From Diaspora to Diversities”, das auch mit unserem heurigen Kunstsymposion verwoben ist, hat eine Gruppe Kulturschaffender für die kommenden Jahre ihres Engagements einen kleinen Fragenkatalog erarbeitet, dessen Klärung uns nun beschäftigt.
Wie es schon viele Jahrzehnte keine nationale Ökonomie mehr gibt, die für sich bestehen könnte, so kann auch kein einzelner Nationalstaat anstehende Sicherheitsfragen für sich bewältigen. Darüber hinaus gibt es keine reale Möglichkeit, sich mit dem speziellen Wohlstand einzelner Länder zu verschanzen und gegen Fragen einer globalen Verteilungsgerechtigkeit abzuschotten.
Eine Politik, die derlei anzubieten versucht, muß als völlig unseriös gelten.
Im Projekt „From Diaspora to Diversities” widmen sich der kultur.at: verein für medienkultur und das Kulturlabor Kunst Ost zwei wesentlichen Bereichen und Personengruppen, indem wir den formulierten Fragen mit künstlerischen Mitteln sowie mit Mitteln der Wissens- und Kulturarbeit nachgehen. Diese zwei Bereiche sind:
- a) Avancierte Kunstschaffende im Bereich der Gegenwartskunst sowie der Betrieb, von dem ihr Tun begleitet wird.
- b) Reisende, Immigranten und Flüchtlinge, von denen uns auf Anhieb Sprachbarrieren, kulturelle Kontraste und legistische Barrieren trennen mögen. Mit ihnen finden wir auf dem Feld der Kunst einen Kommunikations- und Handlungsraum, in dem wir eine Begegnung auf Augenhöhe sicherstellen können.
Das ist übrigens auch ein kultureller Beitrag zur aktuellen Transformation Österreichs, die ja Leute wie wir nicht initiieren, sondern die eine historische Gegebenheit ist; wenigstens seit Österreich 1897 von der Badeni-Krise erschüttert wurde und mindestens seit Österreich 1914 den Großen Krieg ausgelöst hat.
Davor war Österreich ein Imperium von stets wechselnden Dimensionen, einige Zeit ein Reich „in dem die Sonne nicht unterging“. Danach ist Österreich in knapp hundert Jahren mehrfach neu geordnet worden. Und das sollte nun vorbei sein, abgeschlossen? Die Geschichte bietet uns darauf keinen Hinweis.
Ich denke, daraus bezieht unser kleiner Fragenkatalog einige Relevanz.
- 1) Was ist die Rolle der Diaspora in der Dringlichkeit des Nation-Building und in identitätszentrierter Beschäftigung damit?
- 2) Wann erscheint in den künstlerischen Erinnerungen an die Heimat Ambivalenz und Widerspruch?
- 3) Warum werden Traditionen deutlich in retrospektiven Zugehörigkeiten erfunden?
- 4) Wo ist (im Staat) der Raum der transmigrationalen Gruppen und Nicht-Bürgerklassen wie Immigranten, Wirtschaftsflüchtlinge, Vertriebene, Flüchtlinge und illegale Einwanderer?
- 5) Wie werden die Personen einer freiwilligen Diaspora von jenen unterschieden, deren Leben in der Diaspora durch die Verbannung zugeordnet und durch wirtschaftliche Gründe erzwungen wurde?
- 6) Wie wird die Diaspora durch den Cyberspace, also durch Internetstützung, neu gezeichnet?
- 7) Kann aus all dem eine andere Art der Staatsbürgerschaft entstehen? Flexibel, heimatlos und nomadischer?
- 8) Auf welche Weise beeinflussen und formen die neuen Modelle der Mobilität, der nomadischen Erfahrungen, der häufigen Reisen, der kurzfristige Aufenthalte in anderen Ländern als Kunst- und Kulturaufenthalte, jemandes künstlerischer Praxis und Poetik?
+) Der Fragenkatalog deutsch/englich [link]
+) From Diaspora to Diversity [link]
— [Generaldokumentation] —