Seit den 1950er-Jahren, also gut ein halbes Jahrhundert, weiß und untersucht die Wissenschaft etwas, das von vielen kulturbeflissenen Menschen gerne ignoriert wird. Brauchtum, Volkskultur und sogar Volkskunst sind nicht bloß in der bäuerlichen Welt zuhause.
Diese Genres haben seit dem 18. Jahrhundert mit der Industriellen Revolution schrittgehalten. Was heißt das? Brauchtum und Volkskultur sind auch dort zuhause, wo Menschen in Fabriken oder Werkstätten hart arbeiten.
Volkskunst und Kunsthandwerk manifestieren sich nicht bloß in Tanzlmusik, Dreigesang, Korbflechten und „Bauernmalerei“.
Es gibt seit den 1950er-Jahren ein beeindruckendes Feld der Volkskultur, auf dem sich Leidenschaft, Kreativität im Gestaltungswillen, hohe Handwerkskompetenz und soziale Qualitäten bündeln. Das ist eine Szene von Sammlern und Schraubern, die historische Fahrzeuge restaurieren, pflegen, fahrbereit halten, und sie in gemeinsamen Vorhaben inszenieren.
Die Menschen dieser Szene müssen technisch und historisch sachkundig sein. Sie entwickeln teils höchste ästhetische Qualitäten, wo Fahrzeuge modifiziert werden. Sie kombinieren den Erhalt von historischem Wissen mit gelegentlich ganz erstaunlicher Problemlösungskompetenz, wo das Wissen um spezielle technische Probleme schon verlorengegangen ist.
Damit wird auch vielfach ein handwerkliches Können erhalten, beziehungsweise wiederbelebt, wie es die Industrie und die Welt der Massengüter heute nicht mehr braucht, eben deshalb schon verloren hat.
All das drückt sich seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch in typischen Brauchtumsformen aus. Nur ein Schnösel kapiert nicht, daß etwa ein Auto-Korso von 1910 oder ein Cruising von 2010 bäuerlichen Brauchtumsformen gegenüber ebenbürtige Brauchtumspraxis ist, diesen agrarischen Varianten nichts nachsteht.
Worin sich unter volkskundlicher Betrachtung eine Autoweihe von einer Palmweihe oder Fleischweihe angeblich unterscheiden soll, ist ja auch nicht gar so leicht zu erklären. (Ja, klar, Palmen und Fleisch gibt es schon länger.)
In all dem haben sich übrigens gegen Ende des 19. Jahrhunderts Fahrrad-Vereine als gewichtige kulturelle Avantgarde erwiesen und dabei viele Formen des neuen Brauchtums entwickelt, die bis heute präsent sind, teilweise in die Autowelt übernommen wurden.
Unter den Ignoranten solcher Entwicklungen würden etliche nicht glauben wollen, daß etwa die bei uns so populäre Sternsingerei es kaum auf die Hälfte der Jahre bringt, die manche Brauchtumsformen rund um das Automobil seit ihrer Einführung durchlaufen haben.
So ließen sich die Beispiele fortsetzen, wodurch sich eine „Volkskultur in der technischen Welt“ (Hermann Bausinger) schon über mehr als hundert Jahre entfaltet und etabliert hat, auch wenn traditionelle „Brauchtumswächter“ das ignorieren oder sogar in Abrede stellen. Die Brauchtumsforschung und die Volkskunde widersprechen den Ignoranten darin allerdings seit Jahrzehnten.
Wir werden das heuer im Rahmen von „Mythos Puch“ einmal umfassender zur Diskussion stellen, denn es bleibt zu notieren: Die Wissenschaft würdigt Volkskultur auch im näheren Zusammenhang technischer Arbeitswelten schon lange, während vor allem manche bildungsbürgerlichen Kreise, welche es bevorzugen, zur körperlichen Arbeit noble Distanz zu halten, diesen Ausdrucksformen menschlicher Kreativität solchen (Volks-) Kulturstatus absprechen.
— [Mythos Puch 2015] [Volkskultur] —