Die Steiermark erlebt eben (März 2015) einen Gemeinderatswahlkampf. Auch wenn die Stichworte Kunst und Kultur da praktisch gar nicht vorkommen, ergeben viele Werbemittel, wenn man sie bündelt, ein Festival der Volkskultur.
Genauer betrachtet markiert der Begriff Volkskultur Themen und Tätigkeiten, von denen die Politik offenbar annimmt, wir wären alle damit gut vertraut, sie würden einen Teil unserer Traditionen, ja sogar „traditionellen Werte“ erhalten.
Das ist zumindest seit einem halben Jahrhundert eine fragile Annahme. Ist das Wort Volkskultur nicht ein hohler Container-Begriff, der vollkommen beliebig befüllt werden kann? Geschieht nicht auch genau das, um einen Kulturbegriff zu haben, denn nur wirklich jeder Mensch benutzen kann, ohne klären zu müssen, was man eigentlich meint?
Zu Hermann Bausingers 1961er Standardwerk „Volkskultur in der technischen Welt“ heißt es: „Volkskultur: dieses Stichwort scheint auf Traditionen zu verweisen, die aus der Zeit vor der Industrialisierung und Technisierung stammen. Tatsächlich aber durchdringt die technische Welt die Volkskultur; sie hat ihre alten Horizonte aufgelöst und weiträumige Zusammenhänge hergestellt, freilich auch Gegenbewegungen hervorgerufen, in denen die einstigen Formen der Volkskultur neu inszeniert werden.“
Interessant ist Bausingers Vorwort zur Neuausgabe von 1986 (Campus Verlag). Da heißt es etwa: „Technik und überhaupt moderne Ausdrucksformen der Gesellschaft kamen damals in der Volkskunde praktisch nicht vor. Sie waren wegdefiniert, indem Volkskultur als vortechnische, vorindustrielle, vormoderne Form verstanden wurde, von der man annahm, sie habe sich — und sei es auch nur in kräftigen Relikten und abgeschirmten Inseln — bis in die Gegenwart erhalten.“
Die Volkskultur muß also vieles repräsentieren, was nicht genauer bestimmt sein möchte. Die Betonung des Rustikalen, des „Althergebrachten“ und der heimelig inszenierten Arbeitsweisen „von früher“, wie man sie mit der alten agrarischen Welt assoziiert, ist im Grunde schon fast hundert Jahre ein veraltetes Konzept.
Bausinger schrieb: „Die Beschränkung der Volkskunde auf das Bauerntum oder doch auf das Landvolk wird heute theoretisch kaum mehr vertreten. Die letzte bedeutende theoretische Äußerung, welche der Volkskunde als Gegenstand nur das deutsche Bauerntum zuweist, stammt aus dem Jahr 1927 von Julius Schwietering, der gleichzeitig der Volkskunde dadurch neue Wege erschloß, daß er die funktionale Methode ausbaute, indem er den Blick vom bäuerlichen Kulturgut auf seine sozialen Funktionen lenkte.“
Wir haben im Kuratorium für triviale Mythen [link] schon vor einer Weile beschlossen, uns dem Thema Volkskultur zu widmen und einen Teil unseres Engagements als genuinen Ausdruck von gegenwärtiger Volkskultur zu betonen. Dabei wollen wir aber nicht so vage bleiben, wie es manche bevorzugen.
Mein Ausgangspunkt ist die Alltagskultur. Im Mai 2014 habe ich zur Frage „Was ist Volkskultur?“ unter anderem eine Frage notiert: „Das bedeutet, was tut sich Interessantes, wenn jemand von der Arbeit heimgeht und dann seine oder ihre Talente wie Ideen völlig selbstbestimmt einsetzt? Was tun Menschen mit ihrem kreativen und gestalterischen Potential, wenn sie es zum eigenen Vergnügen, zur eigenen Erbauung anwenden, wenn ihnen weder ein Boss noch irgendein Sachzwang den Auftrag erteilt?“ [Quelle]
Aus dem zuständigen österreichischen Ministerium verlautet: „Volkskultur ist der um die Wende zum 20. Jahrhundert entstandene Begriff zur Bezeichnung einer regional verankerten, vorwiegend bäuerlichen und handwerklichen Kulturform, die neben der Festtagskultur und dem Brauchtum im Leben und im Jahreslauf, landschaftsgebundenen Trachten etc. auch mündlich tradierte Kommunikations- und Geselligkeitsformen (Märchen, Sagen, Volksmusik, Volkslied, Volkstanz, Volksschauspiel) umfasst.“ [Quelle]
Ich bin skeptisch, ob sich diese Definition auf kulturelle Ereignisse oder Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts tatsächlich anwenden lassen. (Dazu muß ich mich noch weiter nach Quellen umsehen.)
Im zitierten Text steht auch: „Heute versteht man Volkskultur auch als Teil der städtischen Alltagskultur. Zeitgemäße Volkskulturarbeit, gestützt auf einen offenen Kulturbegriff, manifestiert sich nicht zuletzt in der Tätigkeit von Kulturinitiativen und…“
Ich kenne keine gängige Quelle, die etwa Österreichs Initiativenszene („Freie/autonome Kulturszene“) diesem Genre zurechnet. Was mag gemeint sein? Das Ministerium nennt Bundesverbände, durch die wenigstens üebrschaubar wird, was in der Verwaltung auf jeden Fall der Volkskultur zugerechnet wird:
Bund der Österreichischen Trachten- und Heimatverbände, Bundesarbeitsgemeinschaft Österreichischer Volkstanz, Österreichischer Arbeitersängerbund (ÖASB), Österreichischer Blasmusikverband (ÖBV), Österreichischer Bundesverband für außerberufliches Theater (ÖBV Theater), Chorverband Österreich (ChVÖ), Österreichisches VolksLiedWerk (ÖVLW) sowie Verband der Amateurmusiker und -vereine Österreich (VAMÖ).