Morgens los. Der leichte Sonnenbrand auf meinem linken Arm ist Old School. Neuere Autos haben Klimaanlage. Ich hab das Seitenfenster unten und den Ellbogen draußen. Das war ein deftiger Sommertag mit fast quälender Hitze. Das Ziel, die Ulica Nikole Tesle, in einem Dörfchen nahe Zagreb, zum Glück keine enorme Herausforderung im Finden des Weges.
Die Nikola Tesla-Gasse ist ein feines symbolisches Detail. Dieser Erfinder, dem wir einen wesentlichen Teil der Elektrifizierung der Welt verdanken, stammt aus einem kroatischen Ort in der Lika, im Gebiet der vormaligen Militärgrenze zwischen Habsburgern und Osmanen.
Das Ende dieser Militärgrenze lag im Abzug der Osmanen aus der „Europäischen Türkei“. Dieses Kriegsgeschehen, in dem sich serbische Leute 1912 und 1913 ausgeblutet haben, beschrieb Leo Trotzki in seinen Zeitungsreportagen auf bedrückende Art. Der Vorabend des Großen Krieges, da Österreich meinte, es werde das Gebiet nach dem Rückzug der Osmanen zum eigenen Nutzen kolonisieren können.
Als ich in die Nikola Tesla-Gasse gerade einbiegen wollte, sah ich im Vorgarten eines Hauses ein privates Kriegsdenkmal mit einem großen Foto von General Ante Gotovina und einem anderen Offizier, überschrieben: „Wir werden euch nie vergessen“.
Das verkündet – wie romantisch – eine „Hrvatska Zora“. Zora ist das Morgengrauen, besser wohl die Morgenröte. (Das Haus steht übrigens zum Verkauf.)
Aber ich hab ja den Zweck der Fahrt noch gar nicht erwähnt. Die Vorbereitungen für unser Kunstsymposion intensivieren sich. Nun waren Bilder von Jelena Juresa zu holen. „Mira“ ist eine Arbeit von bestechender Präzision. Fotos, Videos, Erzählungen, das 20. Jahrhundert durchmessend.
Juresas Buch zu diesem Projekt, erschienen in der renommierten Salzburger Edition Fotohof, ist inzwischen auch da. Wie man eine Geschichte langsam und bedächtig erzählt, um wesentliche Details zur Wirkung zu bringen, so wurde hier am Umfang nicht gespart, um der Erzählung Raum zu geben.
Ich genieße sehr die Vorarbeit an diesem Symposion, dieses Vertiefen der Betrachtungen im Ringen um ein Begreifen, womit wir es da zu tun haben. Ich genieße diese etwas mühsameren Wege im Kontrast zur Marktschreierei, die mich umgibt, zum Lostreten lärmender Unterhaltung.
Kunstpraxis, wie wir sie verstehen und pflegen, ist nicht als Repräsentations-Gezappel intendiert, ist keine Unterhaltung für vom Alltag ermüdeter Menschen. Das leisten andere Anstalten. Man könnte es so formulieren: Ich bin Eure Bürde die abzuschütteln kaum gelingen wird. Ich hole niemanden irgendwo ab, sondern erzähle bestenfalls, wo ich mich gerade aufhalte.
Um mit uns zu sein, muß man sich den Mühen des Weges unterziehen. Das ist übrigens leicht zu machen. Es bedarf nur der Entscheidung, so und so viel Zeit vom Tag, der ja für uns alle gleich nur 24 Stunden hat, auf andere Dinge als bloß Zeitvertreib zu verwenden. Lesen, Denken, Lernen, Debattieren. Hier gibt es keine Fertiggerichte des Geistes, die im Schnellkochtopf zubereitet werden. Zeit ist die Münze, mit der Eintritte bezahlt werden müssen.
Und die Inhalte? Es gibt keine knackigen Kurzfassungen, kein „Readers Digest“ mit vier gekürzten Romanen in einem Buch. Es gibt nur das Staunen, das Fragen und die Suche nach Verstehen. Wie es Josef Beuys in einem Streitgespräch sagte: Wenn ich es denken kann, können Sie es auch denken.
Wenn mir also Leute einmal mehr mit der Vorhaltung begegnen: „Mach es nicht so kompliziert, sei nicht so abgehoben“, darf ich erwidern: „Dann laß einmal für fünf Minuten dieses Niveau eines Biertisch-Geschwätzes hinter dir oder such Dir bessere Leute, um deine Zeit totzuschlagen.“
Aber das ist nun schon eine andere Themenstellung. Inzwischen schrieb mir Jelena Juresa: „Dear Martin, is there a chance that you plan the visit from Muhidin Saric when I come to Graz and Gleisdorf?“ Ein Teil ihrer Dissertation bezieht sich nämlich auf die Kriegsverbrechen im Raum Prijedor, die Saric am eigenen Leib erfahren und überlebt hat.
Da wußte Juresa noch nicht, daß es unser Plan ist, die Lesung von Saric im Rahmen ihrer Vernissage zu realisieren. Das hat, gemäß meiner Motive, einen sehr speziellen Grund. Jeder Angriff auf den Leib und das Leben eines einzelnen Menschen ist eine Botschaft, die besagt: Dich soll es nicht zu geben, denn daß es dich gibt ist überflüssig, ja störend.
Das ist für sich entsetzlich genug und wer so einen Angriff überlebt, hat Jahre zu kämpfen, um sich seines Lebens wieder sicher fühlen zu dürfen, oft Jahrzehnte, um selbst in Friedenszeiten ein Gefühl zu entwickeln: Ich bin noch am Leben. Ich darf hier sein. Das ist mein Recht.
Wir wissen aber auch von Menschen, die sich nach solchen Anfechtungen in Kellern verkrochen und sich Jahre später das Leben nahmen, weil sie die Grausamkeit dieser Anfechtung nicht ertrugen.
Bei Muhidin Saric kommt ein zusätzlicher Aspekt zur Wirkung. Wenn eine Soldateska gegen Dichter vorgeht, versucht sie, das kollektive Gedächtnis einer Ethnie auszulöschen, deren Kulltur zu versenken. Deshalb brannte ja in Sarajevo auch die Vjecnica, Bosniens Nationalbibliothek, und der Verlust bedeutender Schriften ist unersetzbar.
Wenn wir also uns den Künstlern unserer Nachbarn zuwenden, sie an unsere Seite holen, ihre Werke beachten, uns mit ihrem Denken auseinandersetzen, dann widersprechen wir so den Barbaren. Denn widersprechen wir deren Intentionen. Dann stellen wir ihren Verbrechen etwas gegenüber, das ihnen sagt: Es ist nicht Eure Welt, die wir wollen, verlangen, es ist die Welt derer, die Ihr auslöschen wolltet, auf der wir bestehen.
Wir sind die Anderen. Und egal, wen aus unseren Reihen Ihr angreift, tötet, wir sind mehr, wir sind länger da. Ihr habt nur Eure Gewehre und Pistolen. Die kann jeder von uns ebenso bedienen. Wir haben aber auch Romane, Gedichte, Gemälde und Lieder.
Gotovina, Mladic, Raznatovic, schon Eure Kinder, spätestens Eure Enkel werden von diesen Männern nichts mehr zu erzählen wissen, da werden die Romane, Gedichte und Bilder unserer Leute noch Bedeutung haben, gelesen und betrachtet werden. Unsere Erzählungen werden Eure Botschaften überdauern.