Wenn ich heute Steintafeln mit Listen von Namen Toter sehe, die uns zum „Heldengedenken“ hingehängt wurden, reagiert mein Leib darauf mit Erinnerungen. Die von den Habsburgern ausgelöste, von den Hohenzollern mitgetragene Gewaltwelle hat nicht bloß in ihrer Zeit unermeßliches Leiden verursacht.
In jenen „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“, der das vorige Jahrhundert prägte, war auch die Generation meiner Eltern verstrickt. Was das an Traumata und Versehrtheit bewirkte, was das an Wut, Scham und Ratlosigkeit nach sich zog, wurde mir wie Abertausenden über Jahre und mit Ausdauer in den Leib geprügelt.
Wenn ich also heute Blumenschmuck an diesen Steintafeln sehe, schmerzt mich dieser Ausdruck von Heuchelei und Leugnung physisch, weil ein Körper sich an die Schläge erinnert, wie der Geist die dazugehörigen Bilder abrufen kann.
Es sind diese ungebrochene Heuchelei und das Leugnen, an dem ich so unversöhnlich wurde, was diese Dinge angeht. Unversöhnlich mit meinen Leuten, unter denen mehreren das Selbstmitleid aus allen Poren quillt. Unversöhnlich mit volkstümlichen Strömungen, die unter den Teppich spülen, was den Hohn derartigen „Heldengedenkens“ ausmacht; auch den grimmigen Witz.
Heute, Jahrzehnte nach diesem anstrengenden Weg durch eine Kindheitswelt, in der Erwachsene keinerlei Hemmungen kannten, Kinder zu demütigen und selbst aus nichtigen Gründen auf sie einzuschlagen, in denen alle nur erdenkbaren Übergriffe ohne Einwand blieben, hat sich etwas grundsätzlich geändert.
Leute wie ich haben längst begonnen, die alten Lügengeschichten umzuschreiben. Während diese Leute sich einreden durften, vor die Geschichte zu treten und Großes zu bewerkstelligen, trete ich vor ihre Gräber, um dort meine Forderung nach Rechenschaft zu hinterlegen.
Das ist natürlich ein symbolischer Akt. Was dem real folgt, ereignet sich auf völlig anderen Ebenen. Das hat auch mit einem Erkunden des vorigen Jahrhunderts zu tun. Solches Erkunden geschieht nicht bloß auf rationale und diskursive Art. Es geht dabei auch um sinnliche Zugänge.
Aus diesem Grund trug eine der Stationen beim April-Festival 2014 den Titel „Brot & Kuchen“. Dabei ging es um „Individuelles Leuchten in imperialen Schattenmomenten. Eine Suche nach entlegenen Augenblicken und Geschmacksereignissen in einer Küche mit Experimentalbäckerin Ida Kreutzer.“
Das bedeutet, wir sahen einiges an „Kriegsrezepten“ durch. Es interessierte uns besonders das Thema Kuchen, welchem wir für die Zeiten großen Mangels sehr spezielle Bedeutung beimaßen.
Ida Kreutzer trieb ein altes Rezept aus der Region auf, mit dem sich ein „Kriegskuchen“ herstellen ließ. Die Leute hatten damals keine Butter, aber Eier und Zucker. Außerdem Mehl vom Buchweizen. Den nannte man hier einst „Hoan“.
Der „Hoansterz“, dessen dunkles Grau im Kontrast zum gelben Polenta steht, welcher auch sehr populär ist, blieb in unseren Küchen bis heute präsent.
Unsere Gastgeberin, Jaqueline Pölzer, stellte uns die Nutzung eines alten Tischherdes in Aussicht. Kreutzer schlug vor, daß wir auch in der Herstellung des Kuchens den damaligen Modus pflegen sollten, also keine elektrischen Küchengeräte verwenden.
Dank des kargen Rezeptes hielt sich das in engen Grenzen. Es war hauptsächlich der Ei-Schnee von Hand zu schlagen, wofür mir Pölzer eine erstklassige Rührschüssel übergab und mehrere Schneebesen zur Auswahl stellte.
Außerdem hatte sie für die Gäste einen großen Topf Brotsuppe gekocht, die klassische Art der Verwertung von Lebensmittel-Resten aller Art. Dazu wurde dann hauptsächlich Wasser getrunken.
Einziger Stilbruch in all dem: Menschen unserer Herkunft hätten damals keine Aussicht auf Kaffee gehabt, den wir uns allerdings gönnten. Der „Kriegskuchen“ wurde mit Hagebuttenmarmelade versüßt.
Es wurde überigens ein sehr wohlschmeckender Kuchen. Der Kriegskuchen würde sich heut jederzeit als Krisenkuchen bewähren und muß damals, während des Ersten Weltkrieges, für die von Mangel gequälten Menschen eine Sensation gewesen sein.