Derzeit begleiten mich in der Arbeit zwei Bücher, die schon allein physikalisch solche Brocken sind, daß man zur Lektüre ein Pult oder einen Tisch braucht. Das eine ist Manfried Rauchensteiners „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie“, überarbeitet und neu aufgelegt. Eine von mehreren wichtigen Publikationen, die uns keine Mythenbildung zumuten.
Das andere ist Peter Weibels Buch zur Ausstellung „Jenseits von Kunst“. Diese Ausstellung war 1996 in Budapest, 1997 in Graz zu sehen. Es ist für mich ein Schlüsselwerk zum Verständnis, wie im 20. Jahrhundert Wissenschaft und Kunst ihre Dialoge vertieften und Wechselwirkungen hervorbrachten, die das prägten, was man bei uns heute als Gegenwartskunst erfahren kann.
Zugleich bezieht man aus diesem Buch eine Ahnung, welche Geisteswelt der Raum Österreich und Ungarn hervorgebracht hatte, um eine Vorstellung dessen zu entwickeln, was Weibel in einem anderen Werk (gemeinsam mit Friedrich Stadler) bearbeitet hat: Die Vertreibung der Vernunft aus Österreich.
Da geht es etwa um die Zerstörung der akademischen Intelligenz 1922-1938, aber auch breiter um vertriebene Vernunft und Kunst.
Man hat nicht gerade das Rad neu erfunden, wenn man ausposaunt, daß wir heute in unserem Kulturbetrieb diesen über Jahrzehnte geübten Kahlschlag unserer Leute bitter büßen. Wir büßen ihn auf zwei Seiten.
Einerseits sind uns unzählige inspirierte Menschen verlorengegangen, wobei uns antiintellektuelle Ressentiments und Antisemitismus in der Sache immer noch schmerzliche Verluste beibringen.
Andrerseits fehlt es in unserer Gesellschaft merklich an Wertschätzung für Wissensarbeit und geistige Güter.
Wer keine Zeit und Kraft auf Wissenserwerb verwenden wollte, wird gerne nach dem Vorwurf greifen, jemand sei „so abgehoben“, mache die Dinge „unnötig kompliziert“, was schnell auch zur Unterstellung führt, jemand sei arrogant und „elitär“.
Polemisch ausgedrück: Der denkfaule Schnösel pflegt Schuldumkehr und wirft dem Wißbegierigen vor, daß sich der seines Verstandes bedient.
Die Spielarten der Intellektuellenfeindlichkeit sind vielfältig. Sie wurzeln ganz wesentlich in der klaren Ahnung, daß man selbst entscheiden muß, ob man frei verfügbare Zeit lieber damit verbringt, sich auf dem Boulevard unterhalten zu lassen, oder ob man es vorzieht, Denk- und Lernschritte zu einem alltäglichen Standard zu machen.
Dazu möchte ich außerdem Beuys zitieren, der in einer öffentlichen Debatte den Vorwurf der „Abgehobenheit“ entgegen nehmen mußte: „Ich gehe davon aus, wenn ich es denken kann, können sie es auch denken.“
Ich habe entschieden, einen Teil unserer neuen Vorhaben in „The Track: Axiom * 2014“ zu bündeln und dabei den Zustand unserer geistigen Welt sowie die Rolle Kunst- und Kulturschaffender in unserer Gesellschaft zur Debatte zu stellen. (Mir fehlen in der Steiermark schon viel zu lange erwähnenswerte Kunstdiskurse und kulturpolitische Diskurse.)
Es entstünde der Geruch der Anbiederung, das Vorhaben nun unter anderem auf Weibels „Jenseits von Kunst“ zurückzuführen, doch ich möchte – umgekehrt – diesen Zusammenhang wenigstens erwähnen, um der erheblichen Vorleistung von Weibel und seinem Team Referenz zu erweisen.
Damit will ich auch ausdrücken, daß mein, daß unser Tun stets auf den Vorleistungen anderer beruht. Unser Denken und unsere künstlerische Praxis eignen sich nicht in einem „beziehungsfreien Raum.
Wie Weibel über die Grenzen des heutigen Österreich geblickt hat und die Kompetenzen wie das Gewicht anderer Leute würdigte, haben wir über Grenzen zu blicken; die der Region, des Landes, der Republik.
Wir sind die Kinder eines Teils Europas, der unsägliche Grausamkeiten hervorgebracht hat, aber auch gewaltige Werke der Wissenschaft und Kunst.
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