Falls wir über Kunst zu reden haben… Das Insert wies ihn als Lagerarbeiter aus. Er saß mit verschränkten Armen da. In einem Wettbüro hätte ich gestern reich werden können. Die Wette hätte gelautet: Er redet über Aktionskünstler Nitsch. Er redet von der Unerträglichkeit dessen Werkes und von den Steuergeldern, die dafür angeblich ausgegeben werden.
Genau so kam es. Ich hab nicht wetten können. Der Reichtum bleibt mir verschlossen.
Dieser Mann wußte ferner zu erzählen, daß auf Vernissagen auf eine Art geredet werde, das sei völlig unverständlich. Der Mann neben ihm, als Schlosser vorgestellt, wußte zu erzählen, man müsse studiert haben, um sagen zu können, was Kunst sei. Und Nitsch, sowieso, unerträglich.
War der Lagerist je auf einer Vernissage? Na, das glaube ich doch sofort! Und woher weiß er das mit Nitsch? Ich sollte erneut ins Wettbüro gehen und nun doch endlich reich werden. Ich wette, was er über Kunst zu wissen glaubt, entstammt ausschließlich der Lektüre von Leserbriefen unserer Boulevard-Presse, aber kaum bis gar nicht persönlicher Anschauung.
Was der Mann über die Verwendung von Steuergeldern im Kunstbetrieb mutmaßt, hat er aus Leserbriefen, die auf Leserbriefe hin geschrieben wurden. Und er verfügt über Chuzpe.
Ich fragte ihn bei Gelegenheit, ob er sich je einen Kulturbericht des Bundes oder des jeweiligen Bundeslandes beschafft habe, die könne man im Web einsehen und downloaden. Da stünde detailliert, wer welche Beträge aus Steuermitteln erhalten habe.
Er nickte. Na, DAS glaube ich erst recht sofort. Ich kenne kaum Kunstschaffende, die sich diese Dokumente beschafft und durchgesehen haben. Aber der Lagerist mit seinem ehernen Kunstverständnis argumentiert auf solider Basis, denn er hat’s gelesen.
Bleibt für uns die brisante Frage, was wir in der Kulturarbeit zu beachten und zu tun hätten, um solchen unsäglichen Ressentiments entgegenzuwirken. Im Kontrast betrachtet besagt so eine Situation, daß die Kunst ein irritierendes Konfliktpotential beinhaltet, da braucht noch gar nichts Irritierendes Gegenstand eines Werkes sein.
Ich dachte eigentlich längst, daß „Provokation“ sich als eine Strategie der Kunst wesentlich und weitgehend erledigt habe. Vermutlich trifft das auch zu, weshalb sie aber nicht vom Tisch ist, weil anscheinend Kunstschaffen per se ein provokatives Statement ist, dessen Wucht ich gerade nicht vor Augen habe.
Warum sonst sollte jemand mit solcher Häme und Abschätzigkeit über Kunst reden, wo sie ihn doch offenbar nicht interessiert, weshalb er von Kunst keine Ahnung hat, auch über Bedingungen der Kunst nur spekulieren kann, wie er ferner über den Kunstmarkt bloß abenteuerliche Phantasien entwickelt. Reality Check? Unnötig. Er weiß schon, was sollte er daher über die Sache noch herausfinden?
Ich vermute, damit wäre ein wesentliche Frage angedeutet, die in der Kultur- und Wissensarbeit nicht ignoriert werden kann. Was ist das Provokante an verfeinerter Wahrnehmung, an erhöhtem Reflexionsvermögen, an der lustvollen Befassung mit immateriellen Gütern, die sich gelegentlich auch materialisieren (Kunstwerke) und teilweise als Artefakte auf einem sehr geldigen Markt mitunter unfaßbare Preise erzielen können?
Meine bevorzugte Mutmaßung in der Sache bezieht sich auf Mentalitätsgeschichte.
Die letzten tausend Jahre war derlei Befassung mit Kunst und mit geistigen Gütern den alten Eliten, Adel und Klerus, vorbehalten. Vor etwa 150 Jahren hat sich ein aufstrebendes Bürgertum mit seinen politischen und ökonomischen Ansprüchen bemerkbar gemacht, hat sich gegenüber den alten Eliten emanzipiert.
Auf beiden Feldern waren „Kunstgenuß“ und „Kunstverstand“ sowie die nötigen finanziellen Mittel, um all dem nachzugehen, soziale Merkmale, die Zugehörigkeit ausdrückten. Zugehörigkeit zu einer bessergestellten Schicht. Umgekehrt: Wer über diese Art der „Kultiviertheit“ in keiner Weise verfügte, konnte nicht „dazugehören“.
Zugegeben, das war nun eine polemische Verkürzung. Aber es macht deutlich, daß ein wütender Untertan spricht, wenn jemand ohne jede Sachkenntnis über Kunst und Künstler herzieht. Er meint wohl nicht eigentlich uns Kunstschaffende, sondern er meint das, womit er uns assoziiert: Die wohlhabende Herrschaft, den Herren, dessen Stiefel er im Nacken spürt und leidet.
In einer weiteren polemischen Verkürzung ließe sich behaupten, so schlägt der Untertan zugleich jene geistigen Erfahrungsmöglichkeiten aus, die ihn wenigstens mental in Augenhöhe zur vormaligen Herrschaft bringen könnten. Könnten!
Das aber drückt die Gegenwart der alten Herrschaften aus und die Wirksamkeit kulturell bedingter Herrschaftsmethoden, denn keine Tyrannis hat genug Wachleute an der Hand, um ganze Völker endlos unter Kontrolle zu halten.
Der Untertan muß den Wächter verinnerlichen, muß sein eigener Wächter werden, wozu gehört, jene zu verachten, die sich der Ästhetik widmen, der „Aisthesis“, also der WAHRNEHMUNG, um daraus über die Reflexion zu eigenen Schlüssen zu kommen, zu anderen Schlüssen als jenen, welche der Herrschaft lieb sind.
Die Freiheit der Kunst ist vor allem anderen die Freiheit, eigene Schlüsse zu ziehen, selbst Verantwortung zu übernehmen; und zwar für das, was man erlebt, empfindet, erfährt, denkt und was daraus an Konsequenzen begreiflich wird.